Eine Ausstellung als historisch-ästhetische Annäherungim Rahmen von 1700 Jahre jüdisches Leben
„Geschichte kann man nicht ausstellen“, sagen die Kurator*innen zu recht, aber es gelingt ihnen auf besondere Weise mit einer Auswahl ganz unterschiedlicher Objekte Geschichten zu erzählen, Geschichten von Menschen, vom jüdischen Leben in der Vergangenheit und seiner heutigen Vielfalt. Die Ausstellung ist das, was sie vorgibt zu sein, eine historisch-ästhetische Annäherung und keine wie auch immer geartete Präsentation jüdischen Lebens. Objekte bieten verschiedenen Zugänge, wirken in ihrem gleichrangigen nebeneinander an Wänden und in Vitrinen wie ein Kaleidoskop. Ausgrabungsstücke, Alltagsgegenstände und Kunstwerke oder Dokumenten lassen Ausstellungsbesucher*innen die Freiheit sich verschiedentlich anzunähern, hier oder dort tiefer einzulassen. Die Ausstellung gibt nicht vor, was zu denken, zu lernen oder mitzunehmen ist und sie hat dennoch ein Ziel. Sie möchte den Blick weiten und Nähe schaffen. Das gelingt, denn Objekte erzählen Geschichten, die berühren. Auch die nicht-gegenständlichen Kunstwerke spielen im Sinne einer ästhetisch-emotionalen Annäherung eine wichtige Rolle. Die archäologischen Funde aus dem mittelalterlichen jüdischen Viertel geben interessante Einblicke in die besondere Geschichte der Stadt Köln. Selbst unwiederbringlich zerstörtes, wie die Synagoge in der Glockengasse bekommt „Raum“, indem der Blick der Besucher*innen durch ein Fenster des Museums in die Glockengasse gelenkt wird. Auch das, was für viele im Alltag nicht sichtbar ist, die Vielfalt jüdischen Lebens heute, bekommt Platz. Ein erster Hinweis hängt bereits prominent im Windfang des Eingangsbereiches, die Regenbogenfahne mit Davidstern des queer-jüdischen Vereins Keshet Deutschland e.V.
Das Jahr 2021 sollte ein besonderes werden, 1700 Jahre jüdisches Leben. Köln ist Ausgangspunkt des Festjahres, feierliche Auftaktveranstaltung in der Synagoge in der Roonstrasse, die Medien berichten ausführlich. Mitten hinein prasseln im Mai die Nachrichten aus dem Nahen Osten.
Naher Osten nah dran? Wohl schon, denn in vielen Städten gibt es antiisrealische Proteste, Angriffe auf jüdische und israelische Symbole, offenen Antisemitismus auf der Straße. Köln ist auch dabei. Am 15. Mai 2021 treffen sich auf dem Heumarkt 1.000 Demonstrationsteilnehmer*innen. Gleichzeitig sind auch vielerorts Menschen gegen Antisemitismus und aus Solidarität mit Israel auf die Straßen gegangen. In Köln waren es 350.
Das Ausmaß an Antisemitismus ist erschreckend, sagen zu Anlässen Politiker regelmäßig. Es war noch nie anders, sagen viele Jüdinnen und Juden und, dass wann immer sich der Konflikt im Nahen Osten zuspitzt, die Lage für sie hier besonders prekär wird.
Solidarität mit Israel ist Staatsräson, aus guten Gründen. Naher Osten nah dran. Tatsächlich? Das gesellschaftliche Klima sagt etwas anderes. Ein paar Fragen…
Israel – Bilder, Assoziationen, Bauchgefühl?
Welche Bedeutung hat der Staat Israel für Jüdinnen und Juden in Deutschland, Europa oder auch weltweit?
Wann und warum entstand der Zionismus und wodurch gewann die politische Bewegung überhaupt erst an Attraktivität und Bedeutung?
Warum müssen Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen in Deutschland von der Polizei geschützt werden?
Wo lebten um 1900 80 Prozent aller Juden und wo liegt das Zentrum jüdischen Lebens heute?
Warum wird der Staat Israel nach wie vor von zahlreichen Akteuren in der Region in Frage gestellt?
Warum scheint es mehr Menschen in Deutschland ein Anliegen zu sein die israelische als beispielsweise die chinesische Regierung zu kritisieren?
Was hat die Gründung des Staates Israel und der deutschen Geschichte zu tun?
Wer sollte Adressat sein für Kritik an israelischer Politik?
Warum haben anscheinend viele Menschen in Deutschland eine Meinung zum Nahost-Konflikt, aber wissen gleichzeitig oft wenig über die Geschichte der Region?
Warum werden deutsche Jüdinnen und Juden für Entscheidungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht und oft genug aufgefordert sich zu distanzieren?
Warum wurde auf Basis der UN-Teilungserklärung nicht gleich auch ein Palästinensischer Staat gegründet?
Warum müssen in den arabischen Nachbarstaaten über Jahrzehnte hinweg palästinensische Flüchtlinge in provisorischen Lagern leben?
Wem verdankt der Staat Israel sein Überleben und Bestehen bis heute?
Wann fanden in Israel die letzten freien Wahlen statt?
Wer ist in Israel wahlberechtigt und welche gesellschaftlichen Gruppen sind in der Knesset vertreten?
auf dem Gebiet, das heute Deutschland ist. Sie kamen mit den Römern, waren Teil der Geschichte und haben Gesellschaft mitgeprägt. Köln kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn seit nachweislich 1700 Jahren gibt es jüdisches Leben in der Stadt. Als Beleg gilt das Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321, welches Kölner Juden ermöglichte in Ämter der Stadtverwaltung berufen zu werden. Dieses früheste Zeugnis jüdischen Lebens gab den Anstoß für das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, eine Geschichte von Ausgrenzung, Verfolgung, Ermordung. Blütezeiten gab es auch, aber sie waren vergleichsweise kurz. Was also machen aus einem Jubiläum mit einer solchen Geschichte dahinter? Schwierig. Und heute? Schätzungsweise 150.000 Jüdinnen und Juden leben in Deutschland. Ein kleines Pflänzchen, welches es vielerorts ohne den Zuzug der Juden aus der Sowjetunion nicht mehr gäbe. Und ein Pflänzchen hinter Mauern, weil es ohne Polizeischutz für Synagogen, Kindergärten und Schulen nicht geht. Scheinbare Normalität. Frei und unbeschwert in Vielfalt zusammen leben, das wäre normal.
Trotzdem und gerade deshalb gibt es dieses Festjahr. Zahlreiche Menschen engagieren sich dafür, haben Veranstaltungen und Aktionen geplant. Es liegt die Hoffnung darin, dass positive Energie für die Zukunft, Empathie entsteht, Neugier und Interesse geweckt wird, wenn die Vielfalt jüdischen Lebens Raum, Bühne und damit mehr Sichtbarkeit bekommt. Das Jahr ist eine Einladung an alle, eine Möglichkeit daraus etwas Gutes zu machen.
Von Köln ging der Impuls für dieses Jahr aus. Köln ist Mittelpunkt der Aktivitäten und auch das ist eine Chance. Die Stadt ist so viel mehr als das, was oft von ihr wahrgenommen wird. Die Vielfalt der Stadtgesellschaft und das reiche kulturelle Erbe machen sie besonders. Von Anbeginn waren Juden hier, haben sich eingebracht. Sie hatten großen Anteil an der Entwicklung der Stadt hin zu einer attraktiven Metropole. Als Unternehmer, Architekten*, Künstler und Mäzene haben sie das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben Kölns mitgestaltet. Es lohnt sich auf Spurensuche zu begeben. Köln ist heute auch die Heimat verschiedener jüdischer Communities. Was für Jüdinnen und Juden das Judentum ausmacht und was es für ihr Leben bedeutet, ist ganz verschieden. Es gibt also viel zu entdecken.
Gesellschaft ist gespalten, Polarisierung nimmt zu. Risse ziehen selbst durch manche Familien. Halb bewusst oder unbewusst sortieren sich Freundes- und Bekanntenkreise neu. Um des lieben Friedens willen wird nicht selten vermintes Gelände umschifft. Bloß kein Streit! Allgemeine Sehnsucht nach mehr Einigkeit. Gleichzeitig große Empfindlichkeit – schon sichtbar andere Lebensvorstellungen werden als nervig oder gar Provokation empfunden. Das was Konflikte verursacht und schürt, kommt immer von außen, kommt von anderen. Ordentlich Sprengstoff liegt in Themen, wie Flucht, Zuwanderung und Integration. Auch Religion stört schnell (Privatsache!) und ist ein zuverlässiger Garant für hitzige Debatten.
Wir beobachten gesellschaftliche Veränderungen genau, aber wir nehmen sie als Phänomene wahr, die außerhalb von uns passiert. Wir sind von Entwicklungen natürlich nicht erfasst. Sich selbst dabei reflektieren, eigenes Verhalten hinterfragen? Warum? Das Problem bin nicht ich! Ich bin ok. Extrem, das sind die anderen. Ich steh auf der richtigen Seite. Andere müssen ihre Einstellungen korrigieren und vor allem ihr Verhalten. Wie geht das zusammen? Wir alle nur Beobachter, betroffen, genervt von dem, was in und mit Gesellschaft passiert? Schnell ist dabei nämlich auch ausgemacht, wer was tun muss. Wer, das sind die [***]. Wer, das ist im Zweifel man und schließlich natürlich immer auch der Staat. Am Rande stehend, sehen wir unseren eigenen Anteil an Gesellschaft, wie sie ist und sich entwickelt, nicht. An dieser Stelle darf das ICH mal groß geschrieben werden. Denn – ICH bin Teil der Gesellschaft, Teil des Problems, kann damit auch zur Lösung beitragen und Element einer Brücke über gesellschaftliche Gräben sein oder aber weiter müde daneben stehen…
[***] bitte selbst, je nach persönlichen Standpunkt, etwas eintragen 🙂
… sitzt da selten freiwillig. Sprache, so sagt Kübra Gümüşay, kann man auch als einen Ort oder sehr großes Museum denken. Kuragiert haben dieses Museum die Menschen, die Standard sind, die Norm markieren. Es zeigt die Welt aus ihrer Perspektive. Wer jenseits der gesellschaftlichen Normalnull verortet, als anders, fremd oder einfach ungewohnt angesehen wird, landet in einer der Vitrinen des Museums, wird kategorisiert, mit Kollektivnamen versehen. Dort verschwindet der Einzelne, das Individuum, der Mensch. Er wird zum Vertreter „seiner“ Gruppe, auch wenn seine persönliche Selbstverortung möglicherweise anders ausfällt. Schnell sieht man in ihm einen Experten. Er hat Auskunft zu geben, muss erklären und dabei nicht das eigene Tun rechtfertigen, sondern auch das anderer Gruppenmitglieder.
Einen Exit aus diesem Frage-Antwort-Spiel gibt es nur für diejenigen, die die Chance haben sich mit „ihrer“ Kategorie unsichtbar zu machen. Wer als Teil des Mainstream angesehen wird, lebt freier, redet über selbstgewählte Themen. Muslimische Frauen, die ihren Kopf bedecken, fühlen vermutlich oft die Hitze des Scheinwerfers auf sich gerichtet. Die Fragen sind immer ähnlich. Im Mittelpunkt steht natürlich die Religion, aber oft geht es auch um Missstände (und nicht etwa Kunstszene oder Oppositionsbewegung) islamischer Ländern. Da hilft es auch nichts, in Bonn aufgewachsen zu sein. Wer Katholik oder Protestant ist, kann sich jetzt mal überlegen, wie oft er schon in die Verlegenheit kam, das Pfingstfest zu erklären. Selten? Genau. Juden werden gern zu israelischer Regierungspolitik oder dem Nahost-Konflikt befragt, auch wenn sie vielleicht nur hin und wieder in Tel Aviv Urlaub machen. Wer zufällig im Osten Deutschlands geboren wurde, ist natürlich prädestiniert den Osten, inklusive „Chemnitz“ und AfD, zu erklären. Dabei spielt es keine Rolle, wenn man seit zwei Jahrzehnten ganz woanders lebt. Natürlich meint es (fast) niemand böse. Aber es zeigt, entlang welch festem Raster unser Denken läuft, insbesondere wenn Fragen unter den Nägeln brennen.
Gesellschaftliche Kategorien und Gruppenbezeichnungen sind praktisch. Ohne Begriffscontainer geht es nicht. Im Alltag sind sie grobe Navigationshilfe, aber damit hat es sich auch schon. Menschen lassen sich eben nicht wie chemische Elemente in ein übersichtliches Raster packen. In jedem von uns steckt Vielfalt, Komplexität, manchmal Widersprüchliches. Wir alle wollen in erster Linie als Mensch und Individuum wahrgenommen werden. In Glaskäfige gedacht und gesprochen zu werden nervt.
Als Musiker mag man sie. Konzerte von Roma-Bands sind beliebt in Köln. Auch Carmen ist populär. Ihr Mythos ist zeitlos. Die Oper ist eine der erfolgreichsten überhaupt und der Stoff hat einige Filmemacher inspiriert. Beim Karneval ist Carmen dabei, ebenso wie die schöne Esmeralda (Der Glöckner von Notre Dame) oder die geheimnisvolle Wahrsagerin. So sieht das „positive“ (Fremd-)Bild einer Romni aus – exotisch-schön, verführerisch, mit unbändigem Freiheitsdrang und viel Lebenslust. Erotisierende und romantisierende Darstellungen waren jahrhundertelang beliebte Sujets in europäischer Literatur und Malerei. Nicht schlimm? Fragen wir Menschen, die betroffen sind. Mehrheitsgesellschaften sprechen über Minderheiten, kreieren Vorstellungen und Bilder. Dabei werden Minderheiten zu homogenen Gruppe gemacht mit bestimmten, unveränderlichen Eigenschaften, die sie außerhalb von Gesellschaft und Normen verorten. Die ebenso bekannten negativen Bilder sind Teil der gleichen Konstruktion.
Tatsächlich wissen wir mehrheitlich wenig. Jeder spreche über sich, daher hier nur ein paar Denkanstöße. Die Sinti und Roma gibt es nicht. Menschen, die dazu gehören, sind Angehörige ganz verschiedener regionaler, nationaler und auch sprachlicher Gruppen mit sehr unterschiedlichen individuellen Lebensentwürfen. Es gehören alteingesessene deutsche Sinti Familie dazu, aber auch Menschen, die vor den Jugoslawienkriegen flüchten mussten. Große Vielfalt, aber was verbindet? Zentral für Identität und Kultur aller Gruppen ist Romanes, die gemeinsame Sprache. Aber auch sie ist Spiegel der Vielfalt und ihr Reichtum an Dialekten groß. Was aber Menschen ungeachtet ihrer verschiedenen Lebenswege und Milieus gleichermaßen trifft, ist die ungebrochene Kontinuität von Diskriminierung. Vorurteile halten sich hartnäckig, denn sie hatten schon immer wichtige Ordnungs- und Orientierungsfunktion für Mehrheiten und dienten ihrer kollektiven Selbstvergewisserung. Wer kann, macht sich also lieber unsichtbar, lebt sein Leben. Prominente Vorbilder gibt es nur wenige.
Wen kennt, sieht und hört man? Recht bekannt ist die Schlager- und Popsängerin Marianne Rosenberg. Ihr Vater Otto Rosenberg überlebte Auschwitz und hat darüber in seiner Biografie berichtet. Prominente Sinteza ist auch Dotschy Reinhardt. Sie ist Jazzmusikerin und als Menschenrechtlerin in Berlin aktiv. Den Rapper Sido kennt sicher jeder. Besser wahrgenommen werden in Köln noch die recht bekannten Musikfestivals, denn sie sind mehrheitlich gut anschlussfähig. Ins Bild passen auch Bettler und Flaschensammler, die ungeachtet ihrer tatsächlichen Herkunft oft als Roma angesehen werden. Damit hat es schon fast, denn wer weiß schließlich, dass sein Kreditberater bei der Sparkasse einer Sinti Familie entstammt oder, dass der vom Balkan eingewanderte Kollege Rom ist? Aber Zeiten beginnen sich zu ändern. Junge Aktivistinnen betreten die gesellschaftliche Bühne, streiten selbstbewusst für gleiche Chancen und dekonstruieren tradierte Vorurteile. Roma werden als vielfältige Künstler sichtbarer, nicht nur in der Musik, sondern auch in Literatur, wie die in Köln lebenden Autoren Jovan Nikolić oder Ruždija Russo Sejdović. Die Berliner Galerie Kai Dikhas („Ort des Sehens“) präsentiert seit 2011 zeitgenössische Kunst von Sinti und Roma aus ganz Europa. MIT EIGENER STIMME erzählen Menschen ihre eigenen Geschichten, die so individuell und verschieden sind, dass sie in keine der bekannten Schubladen passen.
heißt ein bekanntes Kinderspiel. Klingt logisch, aber kurz drüber nachdenken lohnt. Wer mehr vom großen Ganzen sehen und gesellschaftliche Probleme besser verstehen will, muss regelmäßig die Perspektive wechseln. Voraussetzung ist jedoch, sich eigener Wahrnehmungsgrenzen und „Sehfehler“ überhaupt bewusst zu sein. Außerdem braucht es Offenheit, Menschen außerhalb des eigenen „Kosmos“ zu treffen und zu versuchen, die Welt aus ihren Augen zu sehen. Andersdenkende sind zunächst erstmal auch Anderssehende. Mut gehört dazu, denn eigene Wahrheiten werden potentiell von anderen herausgefordert. Wir werden uns unserer „blinden Flecke“ bewusst. Gemütlicher segelt es sich natürlich in widerspruchsfreien Gewässern. Dank selektiver Wahrnehmung kommen wir damit auch recht weit. Erlerntes und Erlebtes hat Strukturen im Gehirn hinterlassen und beim Aufnehmen neuer Informationen knüpfen wir an bekannte Muster an. Wir sehen einfach nur bestimmte Facetten unserer Umwelt. Der große „Rest“ wird weiträumig ausgeblendet. Kein Wunder also, dass wir unsere eigenen Wahrheiten fortlaufend und automatisch bestätigt sehen. Informationen, die diese untergraben würden, fallen meist unter den Tisch. Das macht das Leben einfacher. Im Übrigen prägen auch Berufe die Sicht auf die Welt und wenn sich Freundeskreise dann ebenfalls aus ähnlichen Kontexten rekrutieren, bleibt die Welt rund. Wie komfortabel sich jeder einzelne damit fühlt, mag seine Angelegenheit sein. Aber Wahrnehmung schafft Realität und hat gesamtgesellschaftliche Relevanz. Entscheidenden Einfluss auf das Gelingen von Integration beispielsweise hat, wie Migration (konfliktbeladen, problematisch?) und Zugewanderte (Gefahr für Wohlstand und Sicherheit?) von vielen in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Stereotype Wahrnehmung von gesellschaftlichen Großgruppen zementieren bestehende Verhältnisse, auch wenn man dann die Ursachen in Biologie, Religion oder `Kultur´ zu sehen meint. Insofern lohnt es, alternative Blickwinkel auszuprobieren. Es ist wie bei der ersten Bergtour. Leichte Schwindelgefühle am Anfang sind normal, aber Selbst- und Trittsicherheit nehmen rasch zu. Davon profitiert sogar jeder persönlich. Also legen wir los. Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist…
Identität ist ein schillerndes Wort und hat schon seit einer Weile Konjunktur. Individuelle Selbstentfaltung und -verwirklichung sowie die eigenen Interessen sind uns allen ziemlich wichtig. Gleichzeitig ist das Denken in Gruppen tief ins uns eingesickert. Wer sich eindeutigen gesellschaftlichen Gruppenkategorien verweigert, wird misstrauisch beäugt und zumeist behände von anderen zugeordnet sowie mit den „passenden“ Zuschreibungen versehen – „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“, fasst Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, das ganze gut zusammen. Die Kästchenlogik wirkt wie ein gesellschaftlicher Spaltpilz.
Ich, ich, ich, aber wer bin ich?
Der Markt der Möglichkeiten ist groß und Angebote gibt es zahlreiche. Was uns ausmacht und wie wir leben, ist offensichtlich immer nur eine Option unter vielen anderen. Frühere Autoritäten dienen kaum mehr der Orientierung. Die Zeiten, in denen Gesellschaft relativ homogen und individuelle Verortung fix war, sind vorbei. Manche haben nostalgische Erinnerungen, aber Homogenität hatte für alle einen Preis und für manche einen sehr hohen. Homogenität ist eben nur mit Repression, Anpassung und Gewalt durchzusetzen. Nach der Zeit der Diktatur(en) kam endlich die Freiheit und die Freiheit hatte die Vielfalt im Gepäck. Individualisierung nahm zu. Migration steuerte ihren Teil zur Diversität bei. Gesellschaft ist aber nicht nur vielfältiger geworden, sondern hat sich laut Isolde Charim, Philosophin, pluralisiert. Das bedeutet, dass es nicht mehr nur ein kulturelles Koordinatensystem gibt, sondern offensichtlich mehrere, die nebeneinander stehen. Verschiedenheiten gab es in Gesellschaft auch früher schon, aber im Unterschied zu heute waren sie zweitrangig. Zugewandert oder Alteingesessen, Angehöriger von Minderheit oder Mehrheit, Mann oder Frau – wo jeder Einzelne in Gesellschaft verortet war und wie er dazugehörte, war unmittelbar gesetzt, unhinterfragt und selbstverständlich. Heute hingegen gibt es keine Institutionen und Strukturen mehr, die wie in der Vergangenheit über Macht und Einfluss verfügten, Menschen ihren Platz in der Gesellschaft vorzuschreiben. Eine gesellschaftliche Sitzordnung gibt es zwar nach wie vor, aber sie wird hinterfragt, bekämpft, verteidigt. Das bedeutet mehr Stress und Konflikte.
Ich, ich, ich, aber wer bin ich? „Da ist immer ein Zweifeln, eine rastlose Suche nach sich selbst“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Autor von „Köln auf der Couch“ und „Wie tickt Deutschland?“. Wir schauen weiter und müssen uns (und anderen) immer wieder versichern, wer wir sind und wo unser Platz ist. Das strengt an. Nicht wenige ziehen sich ganz oder zeitweise zurück in ihren Kokon, ihre einigermaßen homogenen Blase. Aber wer sich dauerhaft nur um sich selbst dreht, dessen Leben fühlt sich lau an. Sinnvolles Tun ist ohne einem „Aus-sich-hinausgreifen“ nicht möglich. Freiheit und Vielfalt scheinen für manche schwer aushaltbar zu sein. Ziemlich „Lost in Space“ suchen sie möglichst eindeutige Festlegung für sich selbst und ein Geländer für den eigenen Lebensweg. Andere genießen und nutzen ihre Freiheit. Wer sich aufrafft – der Platz im Kokon wird schon nicht gleich wieder besetzt sein – und in Gesellschaft unterwegs ist, stellt schnell fest, dass jenseits der üblichen Kästchen Menschen mit gemeinsamen Interessen sitzen. Der Horizont weitet sich und das fühlt sich gut an. Wer dann noch seinem Leben mehr Sinn geben möchte – Themen an denen wir Verschiedene gemeinsam arbeiten können, gibt es genug 😉 und der Spaltpilz verliert an Boden…
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 2018 Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, 2018
…gute Frage, am besten jeder über sich. Allzu oft sprechen jedoch Mehrheitsgesellschaften über Minderheiten, reproduzieren Stereotypen und Vorurteile. Minderheiten werden zu homogenen Gruppen und den „Anderen“ gemacht, dienen verschiedensten Projektionen und das oft um sich kollektiv aufzuwerten. Sieht man sich selbst gern als fleißig, gebildet und zivilisiert, so müssen andere eben das Gegenteil sein. Für den Part der Anderen müssen dann Menschen herhalten, die als Gruppen zu identifizieren sind. Generisches Prinzip und als solches variantenreich verbreitet. So gibt also einige dieser monotonen Fremdbilder. Manche sind neueren Datums, andere sind richtiggehend eingebacken in europäische Kultur. Letzteres betrifft beispielsweise die Roma. Sie sind die größte Minderheit in Europa und eine enorm heterogene. Seit über 600 Jahren leben sie hier. Trotzdem wissen viele wenig über Geschichte(n) und Kultur(en). Umso tiefer wurzeln dafür Zuschreibungen und Vorurteile, denn Mehrheitsgesellschaften begegneten ihnen von Anfang an meist misstrauisch, feindlich oder gleichgültig. Oft wurden Roma kriminalisiert und vertrieben. Die Verfolgung gipfelte schließlich in den Völkermord während der NS-Zeit, der in Deutschland erst 1982 offiziell anerkannt wurde. Als Europäer und Minderheit stehen sie quer zum Denkraster von Nationalisten. So wurden Staatenzerfall und politischen Umbrüche in Ost- und Südeuropa nach Ende des Kalten Kriege wieder zur existentiellen Bedrohung. Wer konnte, verließ die Heimat. Ist das Überleben gesichert, bleibt aber doch Rassismus Alltag.
Zurück zur Ausgangsfrage. Meist sprechen Nicht-Roma über Roma. Das muss sich ändern, damit Menschen Deutungshoheit über das Eigene wieder erlangen. „Es ist unsere Kultur“, sagen Roma und Sinti jetzt und setzen ihre eigenen Geschichten gegen die, die bisher andere über sie erzählten. Damit sie besser wahrgenommen werden, ist mit dem RomArchive ist ein Ort für das kulturelle Erbe entstanden, der wie ein lebendiges und virtuelles Museum funktioniert. Kunst und Kultur sind für jedermann zugänglich und sichtbar. In kuragierten Archivbereichen werden Beiträge zu Literatur, Musik oder Tanz gesammelt. Hinzu kommt eine Darstellung der Bürgerrechtsbewegung sowie die Sektion „Voices of Victims“. In dieser ist eine Auswahl von Selbstzeugnissen, wie Briefen und Petitionen, von Roma aus der NS-Zeit aufbereitet. Menschen bekommen im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme zurück, denn was sie gesehen, erlebt und erfahren haben, kann man sich auf Deutsch, Englisch und Romanes anhören. Ihnen zu zuhören, ist das mindeste, was wir heute tun können. Gleiches gilt für die Gegenwart und das nicht nur, wenn Roma als Musiker auftreten.
Im Übrigen ist das RomArchive unter den Preisträgern des Europäischen Kulturerbepreises / Europe Nostra Awards 2019 – HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!
Medienschelte ist verbreitet und bequem. Regelmäßig werden Medien pauschal zu Sündenböcken für gesellschaftliche Missstände gemacht. Natürlich gibt es auch Grund zur Kritik. Beispiele kennt jeder. Strukturell muss sich noch etwas tun, denn durch die „Pluralisten-Brille“ geschaut fällt auf, dass sich gesellschaftliche Vielfalt noch nicht in den Mainstream-Medien widerspiegelt.1 Bei allem was kritisch und entwicklungsbedürftig ist, gilt aber auch, dass ohne öffentliche Medien keine demokratische Gesellschaft funktioniert. „Medien in der Mangel“ weiterlesen