Die große Erschöpfung

Soziales und gesellschaftliches Leben läuft auf Sparflamme, zu viel Vereinzelung. Der Tank ist ziemlich leer, die Laune im Keller. Unfreiwilliges Corona-Biedermeier und gleichzeitig immer wieder der krampfhafte Versuch aus den Umständen das Beste, meist für sich selbst (der nächste Urlaub!), herauszuholen.

In der medialen Berichterstattung scheint es nur noch ein Thema zu geben, Kennziffern und technische Details zur pandemischen Lage, Maßnahmen, Meinungen und viel Lamento. Natürlich haben geschlossene Schulen, Einzelhandel, Restaurants und Bühnen herbe Folgen, aber der Horizont scheint schmal geworden. Manches ist aus dem Blick geraten. Fragen nach Impftermin und Reisemöglichkeiten im Sommer bewegen deutlich mehr, als gesellschaftliche Langzeitschäden oder die Auswirkungen von Corona auf Lieferketten oder Erwerbsmöglichkeiten für Menschen in Brasilien, Indien, Marokko oder Ländern des Globalen Südens. Der Fokus ist national geworden, die Debatte zumindest in Teilen ziemlich flach und seltsam provinziell.

Unterbelichtet geblieben sind auch die Folgen von Corona auf Demokratie und Menschenrechte. Laut Nichtregierungsorganisation Freedom House hat sich seit Beginn der Pandemie ihr Zustand in 80 Ländern verschlechtert. Besonders schlimm trifft es Menschen in noch nicht gefestigten, jungen Demokratien und in stark repressiven Staaten. Insbesondere Minderheiten und marginalisierte Bevölkerungsgruppen haben zu leiden, werden zu Sündenböcken gemacht und zusätzlich diskriminiert. So wurden z.B. in Bulgarien Viertel, in denen mehrheitlich Roma leben härteren Bewegungseinschränkungen unterworfen, als andere Wohnviertel. https://freedomhouse.org/article/new-report-democracy-under-lockdown-impact-covid-19-global-freedom

Wenig gesprochen wurde auch über Einschränkungen kollektiver Beteiligungsrechte, wie Wahlen. Basierend auf Erhebungen des International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) wurden in mindestens 78 Staaten seit Frühjahr 2020 Wahlen und Referenden verschoben. Katapult hat das Thema aufgegriffen und anschaulich darstellt. https://katapult-magazin.de/de/artikel/verschoben-wegen-pandemie

Die Pandemie ist eine ernste Bedrohung für alle und super nervig für jeden Einzelnen, aber die Lasten treffen uns hier und Menschen anderswo sehr unterschiedlich. Wer ist besondere betroffen und wird derzeit kaum gehört? Wer wird nach der Pandemie besonders mit den Folgen zu kämpfen haben? Wo sind Langzeitschäden zu erwarten, wo gesellschaftliche Strukturen kaputt und reparaturbedürftig? Zivilgesellschaftliche Organisationen sind schon lang dran, laufen trotz widriger Umstände tapfer weiter, kümmern sich um die sozialen Folgen, die Bekämpfung von Fake News oder Korruption im Zusammenhang von Corona. Wer braucht Unterstützung in Form von Geld oder helfender Hände und Köpfe? „Winterschlaf“ oder Corona-Biedermeier muss man sich leisten können, aber eigentlich können wir es nicht.

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Mehr Solidarität?

Solidarität hat Hochkonjunktur. Fast täglich werden wir aufgerufen uns solidarisch zu zeigen. Forderungen kommen aus Politik, Zivilgesellschaft, von Kirchen oder prominenten Künstlern. Krisen- und Solidaritätsrhetorik sind inflationär geworden. Man kommt fast nicht mehr mit, auch emotional. Abstumpfung droht.

Selber einen echten Beitrag zu leisten, ist auch deutlich schwieriger als Solidarität von anderen einzufordern. Das große, gute Ideal der Solidarität ist nicht nur zu einem ausgelatschten und überstrapaziertem Begriff geworden, sondern wurde auch allzu oft politisch missbraucht. „Solidarität“ mit anderen autoritären Regimen war Staatsdoktrin der SED-Führung. Gemeint waren Waffenlieferungen oder Entwicklungshilfe. Sie hatten wirtschaftliche, militärische oder politische Interessen. Auch die Bürger wurden verpflichtet. Nur, wer verpflichtet und gezwungen wird, verliert bald jeden Gemeinsinn. Zurück blieb ein verbrannter Begriff, der für ein paar Jahrzehnte in Quarantäne musste. Und heute? Linke sprechen von Globaler Solidarität, Rechte meinen eine völkische – gnadenlos überdehnt oder bis zur Unkenntlichkeit verengt.

Der Solidaritätsbeitrag, der von anderen eingefordert wird, führt das Konzept des freiwilligen Einstehens für andere aus dem Gefühl bürgerlicher Verantwortung oder Nächstenliebe ad absurdum. Solidarität entspringt einem Gefühl der Verbundenheit und bedeutet aus freien Stücken anderen beizustehen, ihre Ideen und Ziele zu unterstützen. Dabei mobilisieren uns oft Notlagen und offenkundige Missstände. Solidarität braucht den emotionalen Impuls, bezieht sich auf bestimmte Gruppen oder Individuen. Sie wirkt ansteckend, wie Wellen solidarischen Handelns in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 oder im Frühjahr 2020, dem Beginn der Corona-Pandemie bei uns gezeigt haben. Wellen aber ebben ab. Gemeinschaftliches Engagement und insbesondere Solidarität sind fragil. Oft verlieren wir schnell wieder den Faden. Außerdem braucht Solidarität Vertrauen, dass unser Einsatz nicht in eine Enttäuschung mündet. Daher funktioniert Solidarität für die Gruppe, die als die eigene angesehen wird, immer noch am besten. Das Wir für uns aber verstellt den Blick für vergleichbare Problemlagen anderer und die Hebel größerer gesellschaftlicher Allianzen.

Schöner, weil stabiler und wirkmächtiger als solidarische Gesten / Impulse / Wellen oder Solidarität für unsereins ist die Politische Freundschaft*. Wir verbünden uns mit Anderen und zwar auf Dauer und nicht nur bei Anlässen, weil wir das gemeinsame größere Interesse sehen (können).

* Max Czollek

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Mit eigener Stimme*

Als Musiker mag man sie. Konzerte von Roma-Bands sind beliebt in Köln. Auch Carmen ist populär. Ihr Mythos ist zeitlos. Die Oper ist eine der erfolgreichsten überhaupt und der Stoff hat einige Filmemacher inspiriert. Beim Karneval ist Carmen dabei, ebenso wie die schöne Esmeralda (Der Glöckner von Notre Dame) oder die geheimnisvolle Wahrsagerin. So sieht das „positive“ (Fremd-)Bild einer Romni aus – exotisch-schön, verführerisch, mit unbändigem Freiheitsdrang und viel Lebenslust. Erotisierende und romantisierende Darstellungen waren jahrhundertelang beliebte Sujets in europäischer Literatur und Malerei. Nicht schlimm? Fragen wir Menschen, die betroffen sind. Mehrheitsgesellschaften sprechen über Minderheiten, kreieren Vorstellungen und Bilder. Dabei werden Minderheiten zu homogenen Gruppe gemacht mit bestimmten, unveränderlichen Eigenschaften, die sie außerhalb von Gesellschaft und Normen verorten. Die ebenso bekannten negativen Bilder sind Teil der gleichen Konstruktion.

Tatsächlich wissen wir mehrheitlich wenig. Jeder spreche über sich, daher hier nur ein paar Denkanstöße. Die Sinti und Roma gibt es nicht. Menschen, die dazu gehören, sind Angehörige ganz verschiedener regionaler, nationaler und auch sprachlicher Gruppen mit sehr unterschiedlichen individuellen Lebensentwürfen. Es gehören alteingesessene deutsche Sinti Familie dazu, aber auch Menschen, die vor den Jugoslawienkriegen flüchten mussten. Große Vielfalt, aber was verbindet? Zentral für Identität und Kultur aller Gruppen ist Romanes, die gemeinsame Sprache. Aber auch sie ist Spiegel der Vielfalt und ihr Reichtum an Dialekten groß. Was aber Menschen ungeachtet ihrer verschiedenen Lebenswege und Milieus gleichermaßen trifft, ist die ungebrochene Kontinuität von Diskriminierung. Vorurteile halten sich hartnäckig, denn sie hatten schon immer wichtige Ordnungs- und Orientierungsfunktion für Mehrheiten und dienten ihrer kollektiven Selbstvergewisserung. Wer kann, macht sich also lieber unsichtbar, lebt sein Leben. Prominente Vorbilder gibt es nur wenige.

Wen kennt, sieht und hört man? Recht bekannt ist die Schlager- und Popsängerin Marianne Rosenberg. Ihr Vater Otto Rosenberg überlebte Auschwitz und hat darüber in seiner Biografie berichtet. Prominente Sinteza ist auch Dotschy Reinhardt. Sie ist Jazzmusikerin und als Menschenrechtlerin in Berlin aktiv. Den Rapper Sido kennt sicher jeder. Besser wahrgenommen werden in Köln noch die recht bekannten Musikfestivals, denn sie sind mehrheitlich gut anschlussfähig. Ins Bild passen auch Bettler und Flaschensammler, die ungeachtet ihrer tatsächlichen Herkunft oft als Roma angesehen werden. Damit hat es schon fast, denn wer weiß schließlich, dass sein Kreditberater bei der Sparkasse einer Sinti Familie entstammt oder, dass der vom Balkan eingewanderte Kollege Rom ist? Aber Zeiten beginnen sich zu ändern. Junge Aktivistinnen betreten die gesellschaftliche Bühne, streiten selbstbewusst für gleiche Chancen und dekonstruieren tradierte Vorurteile. Roma werden als vielfältige Künstler sichtbarer, nicht nur in der Musik, sondern auch in Literatur, wie die in Köln lebenden Autoren Jovan Nikolić oder Ruždija Russo Sejdović. Die Berliner Galerie Kai Dikhas („Ort des Sehens“) präsentiert seit 2011 zeitgenössische Kunst von Sinti und Roma aus ganz Europa. MIT EIGENER STIMME erzählen Menschen ihre eigenen Geschichten, die so individuell und verschieden sind, dass sie in keine der bekannten Schubladen passen.

*Bühnenstück Theater TKO Köln, Regie & Dramaturgie Nada Kokotovic, nach „Voices of Victims“ – RomArchive, Dr. Karola Fings http://kokotovic-nada.de/logicio/pmws/indexDOM.php?client_id=tko&page_id=stuecke&lang_iso639=de&play_id=miteigenerstimme

Berliner Galerie Kai Dikhas https://kaidikhas.de/de/gallery

Literatur von Sinti und Roma auf der Frankfurter Buchmesse 2019 https://zentralrat.sintiundroma.de/buchmesse/

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Ich sehe was, was Du nicht siehst…

heißt ein bekanntes Kinderspiel. Klingt logisch, aber kurz drüber nachdenken lohnt. Wer mehr vom großen Ganzen sehen und gesellschaftliche Probleme besser verstehen will, muss regelmäßig die Perspektive wechseln. Voraussetzung ist jedoch, sich eigener Wahrnehmungsgrenzen und „Sehfehler“ überhaupt bewusst zu sein. Außerdem braucht es Offenheit, Menschen außerhalb des eigenen „Kosmos“ zu treffen und zu versuchen, die Welt aus ihren Augen zu sehen. Andersdenkende sind zunächst erstmal auch Anderssehende. Mut gehört dazu, denn eigene Wahrheiten werden potentiell von anderen herausgefordert. Wir werden uns unserer „blinden Flecke“ bewusst. Gemütlicher segelt es sich natürlich in widerspruchsfreien Gewässern. Dank selektiver Wahrnehmung kommen wir damit auch recht weit. Erlerntes und Erlebtes hat Strukturen im Gehirn hinterlassen und beim Aufnehmen neuer Informationen knüpfen wir an bekannte Muster an. Wir sehen einfach nur bestimmte Facetten unserer Umwelt. Der große „Rest“ wird weiträumig ausgeblendet. Kein Wunder also, dass wir unsere eigenen Wahrheiten fortlaufend und automatisch bestätigt sehen. Informationen, die diese untergraben würden, fallen meist unter den Tisch. Das macht das Leben einfacher. Im Übrigen prägen auch Berufe die Sicht auf die Welt und wenn sich Freundeskreise dann ebenfalls aus ähnlichen Kontexten rekrutieren, bleibt die Welt rund. Wie komfortabel sich jeder einzelne damit fühlt, mag seine Angelegenheit sein. Aber Wahrnehmung schafft Realität und hat gesamtgesellschaftliche Relevanz. Entscheidenden Einfluss auf das Gelingen von Integration beispielsweise hat, wie Migration (konfliktbeladen, problematisch?) und Zugewanderte (Gefahr für Wohlstand und Sicherheit?) von vielen in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Stereotype Wahrnehmung von gesellschaftlichen Großgruppen zementieren bestehende Verhältnisse, auch wenn man dann die Ursachen in Biologie, Religion oder `Kultur´ zu sehen meint. Insofern lohnt es, alternative Blickwinkel auszuprobieren. Es ist wie bei der ersten Bergtour. Leichte Schwindelgefühle am Anfang sind normal, aber Selbst- und Trittsicherheit nehmen rasch zu. Davon profitiert sogar jeder persönlich. Also legen wir los. Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist…

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Wer spricht?

…gute Frage, am besten jeder über sich. Allzu oft sprechen jedoch Mehrheitsgesellschaften über Minderheiten, reproduzieren Stereotypen und Vorurteile. Minderheiten werden zu homogenen Gruppen und den „Anderen“ gemacht, dienen verschiedensten Projektionen und das oft um sich kollektiv aufzuwerten. Sieht man sich selbst gern als fleißig, gebildet und zivilisiert, so müssen andere eben das Gegenteil sein. Für den Part der Anderen müssen dann Menschen herhalten, die als Gruppen zu identifizieren sind. Generisches Prinzip und als solches variantenreich verbreitet. So gibt also einige dieser monotonen Fremdbilder. Manche sind neueren Datums, andere sind richtiggehend eingebacken in europäische Kultur. Letzteres betrifft beispielsweise die Roma. Sie sind die größte Minderheit in Europa und eine enorm heterogene. Seit über 600 Jahren leben sie hier. Trotzdem wissen viele wenig über Geschichte(n) und Kultur(en). Umso tiefer wurzeln dafür Zuschreibungen und Vorurteile, denn Mehrheitsgesellschaften begegneten ihnen von Anfang an meist misstrauisch, feindlich oder gleichgültig. Oft wurden Roma kriminalisiert und vertrieben. Die Verfolgung gipfelte schließlich in den Völkermord während der NS-Zeit, der in Deutschland erst 1982 offiziell anerkannt wurde. Als Europäer und Minderheit stehen sie quer zum Denkraster von Nationalisten. So wurden Staatenzerfall und politischen Umbrüche in Ost- und Südeuropa nach Ende des Kalten Kriege wieder zur existentiellen Bedrohung. Wer konnte, verließ die Heimat. Ist das Überleben gesichert, bleibt aber doch Rassismus Alltag.

Zurück zur Ausgangsfrage. Meist sprechen Nicht-Roma über Roma. Das muss sich ändern, damit Menschen Deutungshoheit über das Eigene wieder erlangen. „Es ist unsere Kultur“, sagen Roma und Sinti jetzt und setzen ihre eigenen Geschichten gegen die, die bisher andere über sie erzählten. Damit sie besser wahrgenommen werden, ist mit dem RomArchive ist ein Ort für das kulturelle Erbe entstanden, der wie ein lebendiges und virtuelles Museum funktioniert. Kunst und Kultur sind für jedermann zugänglich und sichtbar. In kuragierten Archivbereichen werden Beiträge zu Literatur, Musik oder Tanz gesammelt. Hinzu kommt eine Darstellung der Bürgerrechtsbewegung sowie die Sektion „Voices of Victims“. In dieser ist eine Auswahl von Selbstzeugnissen, wie Briefen und Petitionen, von Roma aus der NS-Zeit aufbereitet. Menschen bekommen im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme zurück, denn was sie gesehen, erlebt und erfahren haben, kann man sich auf Deutsch, Englisch und Romanes anhören. Ihnen zu zuhören, ist das mindeste, was wir heute tun können. Gleiches gilt für die Gegenwart und das nicht nur, wenn Roma als Musiker auftreten.

Im Übrigen ist das RomArchive unter den Preisträgern des Europäischen Kulturerbepreises / Europe Nostra Awards 2019 – HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

https://www.romarchive.eu/de/

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Über die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit

Toleranz gegenüber Minderheiten ist für viele normativ, leben wir doch in dem Selbstverständnis, dass allen Menschen gleiche Rechte zukommen. Natürlich identifizieren wir uns mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren Kernbotschaft bereits in den ersten zwei Sätzen formuliert ist:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Selbstverständlich beginnt auch das Grundgesetz damit, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand aufgrund seiner Herkunft, seines Glaubens oder seines Geschlechts benachteiligt werden darf. Das ist unser Anspruch – kollektiv wie auch individuell.

Aber dennoch…

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Unsichtbare Minderheit

Was wissen wir eigentlich über Sinti und Roma?

Im Zweifel nicht viel und was wir wissen, haben wir in den seltensten Fällen aus persönlichen Gesprächen mit Menschen erfahren. Es fehlen Gelegenheiten und viele Roma verbergen ihre Identität auch aus Angst vor Diskriminierung.

Wie lebt es sich als Rom oder Romni in unserer Gesellschaft? „Unsichtbare Minderheit“ weiterlesen