Rückzug ins Schneckenhaus

Klimawandel, Umweltkatastrophen, Gesellschaft zunehmend gespalten und polarisiert, Hass im Netz, Verschwörungsideologien erreichen ein großes Publikum, Minderheiten werden bedroht und angegriffen, ebenso Politiker*innen und Aktivist*innen… Unübersehbar türmen sich Probleme. Wie damit umgehen? Kopf in den Sand oder anpacken und loslegen?

Laut Studie des Rheingold-Instituts zum Zukunfts- und Stimmungsbild sehen zwei Drittel der Deutschen ängstlich in die Zukunft, sehen mit Sorge auf Gesellschaft heute und empfinden die gegenwärtige gesellschaftliche Stimmung als negativ. Wie gehen Menschen mehrheitlich damit um? 43 Prozent konzentrieren sich auf ihr privates Umfeld. Viele haben Sehnsucht nach heiler Welt im Kleinen à la ‚und die Welt bleibt draußen‘. Neun Prozent geben an, gesellschaftlich aktiv zu sein und einen Beitrag zu leisten, im Ehrenamt, in Umwelt- oder sozialen Projekten oder durch politische Arbeit. NEUN Prozent?

Das allgemeine gesellschaftliche Energieniveau scheint eher niedrig. Manche spüren den Handlungs- und Veränderungsdruck deutlich, aber zu wenige sehen den eigenen Anteil (am Problem und seiner Lösung), fühlen sich als ganz kleines Rädchen im großen Weltgetriebe. Apokalyptische Zukunftsbilder mobilisieren keine Mehrheiten und spannender wäre es doch zu diskutieren, wie Zukunft aussehen soll und kann. Also liebe demokratisch Engagierte – lasst Euch bitte nicht vom allgemeinen Pessimismus und Rückzug anstecken! Jeder Beitrag zählt und positive Energie kann andere anstecken.

https://www.rheingold-marktforschung.de/zukunftsstudie-2021-wie-deutsche-in-die-zukunft-blicken/

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Demokratie lebt davon, dass sie praktiziert wird…

Manche haben das Gefühl, die Demokratie sei in der Krise, glauben zumindest, früher wäre alles besser gewesen. Tatsächlich? Für wen? Sicher nicht für Frauen, Zugewanderte, LGBTQs u.a. Klar, übersichtlicher war es. Es gab weniger Konfliktlinien und folglich war das Parteiensystem weniger polarisiert. Antikommunismus und Westbindung fungierten bis zum Ende des Kalten Krieges als ideologische Leitplanken, hegten laut Parteienforscher Michael Koß alle strukturellen politischen Konflikte ein. Wer sich das nicht vorstellen kann, möge an den Beginn der Corona-Pandemie zurückdenken. Der Virus fungierte als gemeinsamer Feind und gemeinsamer Feind vereint. Alle anderen Konflikte traten – zumindest für kurze Zeit – in den Hintergrund.

Herausforderungen und Umbrüche, wie Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung und Migration verschwinden jedoch nicht. Auch wenn es sich mancher harmonischer wünscht, wir sind zurück im Normal.

Was heißt das nun für uns? Demokratien sind bewegliche Systeme und offene Gesellschaften haben Feinde, die alles andere als untätig sind. Ein bisschen Angst um die Demokratie kann man schon haben, sagt Michael Koß. Wer gesellschaftliche und politische Umbrüche erlebt hat weiß, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Zu denken, „die da oben“ sollten sich jetzt endlich mal um die wichtigen Themen (welche?) kümmern, zeugt eher von Untertanengeist. Demokratie lebt vom Engagement und Mitmachen. Das bedeutet, mindestens gut informiert wählen zu gehen, besser noch selbst aktiv zu sein. Wer sich, wo auch immer, politisch engagiert, bekommt ein besseres Verständnis davon, wie Demokratie funktioniert, was man von Institutionen und ihren Vertretern erwarten kann.

Interessanterweise genießen in Deutschland regulative Institutionen, wie Polizei und Gerichte seit je her mehr Vertrauen als repräsentative. Dabei wird Parteien traditionell wenig Vertrauen entgegengebracht und das, obwohl ihre Rolle in der deutschen Demokratie so zentral ist. Aber egal, wie man persönlich zu all dem steht, von allein wird nichts besser. Die Feinde der Demokratie kümmern sich ganz sicher um mehr als den nächsten Urlaub.

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Die große Erschöpfung

Soziales und gesellschaftliches Leben läuft auf Sparflamme, zu viel Vereinzelung. Der Tank ist ziemlich leer, die Laune im Keller. Unfreiwilliges Corona-Biedermeier und gleichzeitig immer wieder der krampfhafte Versuch aus den Umständen das Beste, meist für sich selbst (der nächste Urlaub!), herauszuholen.

In der medialen Berichterstattung scheint es nur noch ein Thema zu geben, Kennziffern und technische Details zur pandemischen Lage, Maßnahmen, Meinungen und viel Lamento. Natürlich haben geschlossene Schulen, Einzelhandel, Restaurants und Bühnen herbe Folgen, aber der Horizont scheint schmal geworden. Manches ist aus dem Blick geraten. Fragen nach Impftermin und Reisemöglichkeiten im Sommer bewegen deutlich mehr, als gesellschaftliche Langzeitschäden oder die Auswirkungen von Corona auf Lieferketten oder Erwerbsmöglichkeiten für Menschen in Brasilien, Indien, Marokko oder Ländern des Globalen Südens. Der Fokus ist national geworden, die Debatte zumindest in Teilen ziemlich flach und seltsam provinziell.

Unterbelichtet geblieben sind auch die Folgen von Corona auf Demokratie und Menschenrechte. Laut Nichtregierungsorganisation Freedom House hat sich seit Beginn der Pandemie ihr Zustand in 80 Ländern verschlechtert. Besonders schlimm trifft es Menschen in noch nicht gefestigten, jungen Demokratien und in stark repressiven Staaten. Insbesondere Minderheiten und marginalisierte Bevölkerungsgruppen haben zu leiden, werden zu Sündenböcken gemacht und zusätzlich diskriminiert. So wurden z.B. in Bulgarien Viertel, in denen mehrheitlich Roma leben härteren Bewegungseinschränkungen unterworfen, als andere Wohnviertel. https://freedomhouse.org/article/new-report-democracy-under-lockdown-impact-covid-19-global-freedom

Wenig gesprochen wurde auch über Einschränkungen kollektiver Beteiligungsrechte, wie Wahlen. Basierend auf Erhebungen des International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) wurden in mindestens 78 Staaten seit Frühjahr 2020 Wahlen und Referenden verschoben. Katapult hat das Thema aufgegriffen und anschaulich darstellt. https://katapult-magazin.de/de/artikel/verschoben-wegen-pandemie

Die Pandemie ist eine ernste Bedrohung für alle und super nervig für jeden Einzelnen, aber die Lasten treffen uns hier und Menschen anderswo sehr unterschiedlich. Wer ist besondere betroffen und wird derzeit kaum gehört? Wer wird nach der Pandemie besonders mit den Folgen zu kämpfen haben? Wo sind Langzeitschäden zu erwarten, wo gesellschaftliche Strukturen kaputt und reparaturbedürftig? Zivilgesellschaftliche Organisationen sind schon lang dran, laufen trotz widriger Umstände tapfer weiter, kümmern sich um die sozialen Folgen, die Bekämpfung von Fake News oder Korruption im Zusammenhang von Corona. Wer braucht Unterstützung in Form von Geld oder helfender Hände und Köpfe? „Winterschlaf“ oder Corona-Biedermeier muss man sich leisten können, aber eigentlich können wir es nicht.

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Unsichtbare Feinde

Demokratien können mit einem Putsch untergehen, mit einem Krieg, einer Revolution. Sie können aber auch allmählich sterben, ohne jedes Drama eingehen. Ein allmählicher Prozess, der irgendwann anfing. Wie das aussehen könnte, zeigt Juli Zeh in „Leere Herzen“. Die BBB, „Besorgte-Bürger-Bewegung“, ist an Macht. Ein „Effizienzpaket“ nach dem anderen wird verabschiedet und auf die Art sukzessive die Demokratie abgebaut. Die meisten Menschen scheint das nicht zu interessieren. Das Leben geht weiter. Die Veränderungen haben erstmal keinen großen Einfluss auf Alltag und Lebensqualität der meisten. Es herrscht allgemeine Gleichgültigkeit. Politik, Religion, Gemeinschaftsgefühl und der Glaube an eine bessere Welt sind verlorengegangen. Überzeugungen? So gestrig wie Zeitung lesen. Die Gesellschaft im Roman ist sehr grob skizziert, aber die Bezüge zur Gegenwart sind deutlich.

Was gefährdet Demokratie?

Der demokratische Rückschritt beginnt an der Wahlurne denken einige mit Blick auf die Wahlerfolge von Rechtspopulisten und –Extremisten. Tatsächlich beginnt er aber schon viel früher, nämlich dort, wo Leute sich nicht als Teil einer größeren politischen Gemeinschaft fühlen, als Bürger, deren Stimme zählt und die über Möglichkeiten der Einflussnahme verfügen. Die „Partei der Nichtwähler“ erreichte bei der Bundestagswahl 2017 23,8%. Bei Kommunalwahlen in Köln wählt fast die Hälfte nicht und dass, obwohl Wahlergebnisse Einfluss auf Themen haben, die das Leben der meisten ziemlich direkt betreffen. In einer demokratischen Gesellschaft sind Wahlen die wichtigste Form der Partizipation. Hier manifestiert sich die politische Gleichheit der Bürger: „One men, one vote“. Politik reagiert auf zähl- und hörbare Stimmen. Wenn diejenigen, die ihren „Bürgerjob“ an den Nagel gehängt haben, immer mehr werden, steht Demokratie auf sehr wackeligen Beinen. Eine Mehrheit von Konsumenten könnte sie nicht mehr tragen.

Demokratie ist eine Aufgabe, für alle. Dazu gehört sich zu informieren, sich zumindest zu ein paar Themen eine Meinung zu bilden. Andernfalls kann man schlecht eigene Präferenzen mit den Angeboten der Parteien abgleichen. Demokratie erfordert Verhandlungen, Kompromisse, Zugeständnisse. Wer ein besseres Verständnis für politische Kommunikation und demokratische Prozesse hat, hat auch realistischere Erwartungen. Politiker-Bashing ist jedenfalls leichter, als sich den Politikbetrieb selbst mal genauer anzuschauen oder z. B. mitzuhelfen Themen auf die politische Agenda zu bringen.

Populäre Extremisten und Gegner der Demokratie gibt es immer. Die Frage ist, wie die Mehrheiten mit antidemokratischen Minderheiten umgehen. Hier liegt der Hebel. Gleichzeitig sitzt hier auch die Gefahr, wenn sich politische Apathie und Angst breit machen, die Vereinzelung zunimmt und mit ihr die größeren Ideen und gemeinsame Ziele verloren gehen.

 

Steven Levitsky / Daniel Ziblatt (2018): Wie Demokratien sterben
Juli Zeh (2017): Leere Herzen

Angst frisst Demokratie… ?

Angst ist ein Urgefühl. Sie signalisiert mögliche Gefahr, ist die narzisstischste aller Emotionen. Es geht um die eigene Sicherheit, das Überleben. Wer Angst hat, verschwindet in seinem Silo, verliert den Überblick. Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagt der Volksmund. Sie kann einen validen Kern haben oder auch eine Reaktion auf eine wahrgenommene Gefahr sein. Angst vor sozialem Abstieg, Zuwanderung, Verlust an kultureller Identität, terroristischen Anschlägen, neuen Technologien, Covid 19, der Klimakatastrophe… Die Liste kollektiver Ängste ließe sich fortsetzen. Oft geht Angst mit dem Gefühl einher nichts tun zu können, Gefahren oder Veränderungen ausgeliefert zu sein.

Meist sitzen Ängste in den Tiefenschichten des Bauches, kaum beachtet und nicht wirklich von Bedeutung. Die Angst kann jedoch schnell nach oben gespült, durch politische Rhetorik mobilisiert werden. Gut, wenn das in eine konstruktive Auseinandersetzung mündet. Oft schlägt Angst jedoch in Wut und Aggression um, braucht ein Ventil, ein Feindbild oder Sündenbock. Auch so kann ein ehemals diffuses Gefühl Richtung bekommen. Das ist der Moment für populistische Angebote oder autoritäre Verführung. Ein „starker Führer“, der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss, ist in Teilen der Gesellschaft durchaus attraktiv.

Wenn sich Angst und Unsicherheit breit machen, gewinnen autoritäre Antworten an Zustimmung. In abgeschwächter Form zeigt sich kollektive Verunsicherung auch in dem Ruf nach einem starken Staat. Die Politik ist gefragt, soll sich kümmern. Forderungen nach Verboten, Regeln, Gesetzen sind an der Tagesordnung. Aus den Untiefen der Gesellschaft tauchte im Corona-Jahr 2020 das längst vergessene Bild vom „Vater Staat“ wieder auf. Bürger als Kinder in einem wilheministischen Familienbild…?! Die Freiheit hat(te) wenig (hörbare) Fürsprecher (dafür einige falsche Freunde).

Angst kann die Sehnsucht nach der Abkürzung schüren und damit Löcher in das Fundament von Demokratien fressen. Eine Gesellschaft in Angst sitzt mutlos auf der Rückbank. Gründe für Angst gibt es immer, aber eigene Handlungsoptionen auch. Persönliches Rezept? Einfach machen, sich im Tun als wirksam erleben, sich zusammen mit Gleichgesinnten für Themen einsetzen, auch kleine Erfolge feiern, die Debatte mit potentiell Andersdenkenden nicht scheuen… 🙂

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