Die Mauer fiel und wir waren so frei…

Geburtsort Berlin. Kindheit in Ostberlin. 15 Jahre alt als das SED-Regime gestürzt wurde und die Mauer geöffnet. Der Umbruch ging schnell, die Stadt wuchs rasch zusammen. Bald wusste man nicht mehr so genau, wo die Grenze gewesen war. Es wurde hier gewohnt und dort gearbeitet. Bei den Älteren hielt sich die Mauer in den Köpfen wohl länger, aber für uns war Geschichte rasch Geschichte. Die 90er Jahre wurden prägende Zeit. Als sie vorbei waren, kehrte ich Berlin den Rücken. Vergangenes wurde mit Neuem zugeschüttet und räumliche Distanz tat ihr Übriges.

„Von einem bestimmten Zeitpunkt an, der nachträglich nicht mehr zu benennen ist, beginnt man, sich selbst historisch zu sehen; was heißt: eingebettet in, gebunden an seine Zeit“ – schrieb Christa Wolf.* Erinnerungsspuren nachzulaufen, wird interessant. Jahrestage wirken wie kleine Anstupser. Vor dreißig Jahren fiel die Mauer. Dreißig Jahre?! Schon? Erst? Wie war es und was bleibt?

Erinnerungen sind subjektiv. Auch wie DDR-Geschichte im Leben einzelner nachwirkt, ist sehr verschieden. Die Frage, wie es so war, ist dennoch einfach zu beantworten. Der Staat nannte sich demokratisch, aber war eine Diktatur mit ausgeklügeltem Herrschafts- und Unterdrückungsapparat. „Wahlen“ gab es regelmäßig, aber sie waren eine sinnentleerte Pflichtübung. Jede Form von Opposition wurde verfolgt und unterdrückt. Staatliche Willkür wirkte einschüchternd und lähmend auf die allermeisten. Der Rückzug ins Private war für viele die einzig mögliche Überwinterungsstrategie. Wer unauffällig lebte und sich an die Regeln hielt, wurde wenig behelligt. Allerdings waren gesellschaftliche Normen sehr eng ausgelegt und individuelle Freiheit beschnitten. Kollektivierung, anstatt freier Selbstentfaltung, war ein wesentliches Herrschaftsprinzip. Die Berufs- und Studienwahl war eingeschränkt und es gab keine offenen Debatten oder freie Meinungsäußerung. Wer sich als Christ „outete“, musste mit Ausgrenzung und Diskriminierung rechnen. Die Medien waren nicht unabhängig und es gab auch keine Rechtstaatlichkeit. Staatlicher Indoktrination konnte man sich nicht entziehen, denn sie begann schon im Kindergarten. Schulen spielten eine zentrale Rolle in der Erziehung zum loyalen DDR-Menschen. Jeder war Mitglied in mindestens einer staatlichen Zwangsorganisation. Fahnenappelle und Aufmärsche gehörten zum Alltag. Die Gesellschaft war militarisiert, Wehrunterricht Pflicht für alle in der 9. und 10. Klasse. Groteskerweise war die Friedenstaube zentrales Symbol der DDR. Menschen aus sozialistischen „Bruderstaaten“ kamen zum Studieren und Arbeiten, aber lebten separiert und für die Mehrheit unsichtbar. Lebenswelt war homogen und Gesellschaft zweigeteilt. Viele lebten in stiller Opposition, andere waren „glaubensfest“ und dem SED-Regime treu ergeben. Vorsichtig waren alle, denn viele wurden überwacht. Leben teilte sich für uns und die meisten in ein „Innen“ und ein „Außen“. Bücher und Zeitschriften wurden geschmuggelt. Sie waren neben Radio und Fernsehen Fenster zur Welt. Korruption durchzog den Alltag, aber wurde nicht so genannt und wahrgenommen. Kirchen sind erfolgreich an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, aber konnten sich als Gegenspieler des SED-Regimes behaupten. In dem ansonsten durchideologisierten Staat boten sie kulturelle Rückzugsräume und Orte für Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Ein paar Kirchen wurden zu den Zentren der Protest- und Demokratiebewegung. Mitglieder hatten sie in den achtziger Jahren nicht mehr viele. Kirchenzugehörigkeit bedeutete oft primär bewusstes Festhalten an kulturellen Wurzeln und Opposition.

Die Mauer fiel und dann? Große Freude! Durchatmen! Wir waren so frei…

Bisherige Autoritäten waren plötzlich keine mehr oder sie waren zunächst ziemlich orientierungslos, so wie unsere Lehrer. Der Schulalltag ging weiter, aber vieles war offen. Wer konnte, diskutierte sofort mit. Für einen kurzen Moment schien vieles möglich. Der Samstag wurde endlich schulfrei. Die Gefahr wegen einer schlechten Note in Russisch oder aus politischen Gründen geext zu werden, war nunmehr Null. Geschichte und Staatsbürgerkunde wurden im Februar 1990 nicht mehr bewertet. Im Abschlusszeugnis der 9. Klasse vom Juli 1990 waren die Fächer Einführung in die sozialistische Produktion und Staatsbürgerkunde durchgestrichen. An Gesellschaftskunde wurde „teilgenommen“. Geschichte hieß dann interessanterweise „Politische Weltkunde“, aber Wissen über Länder, Gesellschaften, Geschichte und Politik war allseits ziemlich begrenzt. Russischlehrer mussten umlernen, weil kaum jemand noch Russisch lernen wollte. Die Schülerschaft wurde bunter. Unsere Eltern waren schwer beschäftigt, mussten vieles neu lernen und vor allem, um ihre oder um neue Jobs kämpfen. Gesellschaftliche Polarisierung und Ungleichheit nahmen sichtbar zu. „Wendehals“ war das meistgenutzte Schimpfwort damals.

Auf die Frage „Was bleibt?“ wird jeder anders antworten. Für mich wurde Freiheit das Thema im Leben. Ich bin froh über Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Als Eingriffe in meine Autonomie wahrgenommene „Encounter“ mit Autoritäten können in mir schneller Stress und unangenehme Ohnmachtsgefühle auslösen. Ideologisiertes Denken in Schwarz-Weiß-Schablonen wird mir zeitlebens ein Gräuel sein. Größere Gruppenveranstaltungen sind mir eher suspekt, denn sie können rasch vereinnahmend und beklemmend wirken. Ich fühle Empathie mit Menschen, die Teile ihrer Identität verbergen müssen, weil sie sonst Anfeindungen oder Nachteile zu befürchten haben. Mit Menschen, die auch Unfreiheit erlebt haben, fühle ich mich rasch verbunden. Die Vielfalt menschlichen Lebens ist einfach wunderbar. Welt ist komplex, bunt und „Wahrheiten“ gibt es mehrere. Es lebe die Freiheit von Repression sowie Bevormundung und für eigene Lebenswege 🙂

*Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr“ (2005)

Urheber: Jürgen Lottenburger
Januar 1990, Berlin, Brandenburger Tor
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/