Drei Jahrzehnte…

ist es her, dass aus den zwei deutschen Staaten einer wurde. 3. Oktober 2020 in Köln. Der Himmel ist grau, Nieselregen, Ruhe. Es könnte Allerheiligen sein. Der Tag der Deutschen Einheit scheint hier nicht stattzufinden. Während die Straßen in Köln ruhig und leer sind, finden zur gleichen Zeit in Berlin 70 Demonstrationen statt.

Voll sind nicht nur Straßen und Plätze in Berlin, voll sind auch die Medien. Interviews mit Zeitzeugen, ökonomische Kennziffern, Portraits ostdeutscher Unternehmerpersönlichkeiten. Es gibt kritische Geschichten, wie „Vor 30 Jahren: Mit Randale in die Einheit“ (Deutsche Welle, Bonn), aber auch ausschließlich positive, wie „30 Jahre Deutsche Einheit: ein Erfolg! Die Lage in Ostdeutschland ist viel besser, als viele vermuten. Man muss nur genau hinsehen“ (Friedrich Naumann Stiftung). Studien, wie „30 Jahre danach: Ost und West uneins über Deutsche Einheit“ von der Bertelsmann-Stiftung, analysieren auf Basis repräsentativer Befragungen, wie Menschen auf Ereignisse schauen. In überregionalen Medien gibt es Sonderbeilagen. Man will es auf jeden Fall gut machen, entweder kritisch, weil nur kritisch gut ist oder positiv-wertschätzend, weil Berichterstattung allzu oft pauschalierend und im Ton herabsetzend war.

In Köln sitzend, wirken die sonntägliche Ruhe, der Kontrast zu Berlin und Medienwelt seltsam. Gleichzeitige Ungleichzeitigkeit auch, weil der Tag für einen selbst wichtig ist. Im Zweifel skeptische Blicke. Geteilte Großfamilie, deutsch-deutsche Kleinfamilie. Das Verständnis hält sich in Grenzen. Man bleibt gern bei dem, was man denkt. Als „Fernsehereignis“ hat der Tag für viele die Qualität eines geschichtlichen Datums. Eine Zäsur, auch „Wende“ im Leben für die einen, ein Datum für andere. Wieder andere erinnern sich mit grenzenlosem Unbehagen an offenen Nationalismus und Gewalt gegenüber Zugewanderten in den 1990er Jahren. Perspektiven sind sehr verschieden und Asymmetrien offensichtlich. Darüber wäre es wichtig zu reden. Auch über Fragen wie, was es bedeutet deutsch zu sein, was Identität ausmacht. „Nationales“ war entweder geschickt umdribbelt, unterdrückt oder unbesprechbar. Der Einheitstag als Zumutung, vom Konzept des Nationalfeiertages erst gar nicht zu reden. Wenn eine Fußball-WM stattfindet, sieht die Sache übrigens anders aus, Fähnchen wohin das Auge schaut und zwar im ganzen Land. Kaum jemand scheint dabei Bauchgrummeln zu haben. Geht ja nur um Fußball! Tatsächlich? Sind nicht doch ein paar Fragen offen? Sehnsucht und Suche nach positiven kollektiven Bezugspunkten? Die Friedliche Revolution ist das beste Stück Geschichte, dass wir haben. Sie hat viel positive Energie erzeugt und Menschen auf der ganzen Welt Mut gegeben. Der 3. Oktober könnte Köpfe und Gespräche anstupsen. Das braucht aber keine runden Jahrestage. Wir können auch nächstes Jahr anfangen.

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