Rückzug ins Schneckenhaus

Klimawandel, Umweltkatastrophen, Gesellschaft zunehmend gespalten und polarisiert, Hass im Netz, Verschwörungsideologien erreichen ein großes Publikum, Minderheiten werden bedroht und angegriffen, ebenso Politiker*innen und Aktivist*innen… Unübersehbar türmen sich Probleme. Wie damit umgehen? Kopf in den Sand oder anpacken und loslegen?

Laut Studie des Rheingold-Instituts zum Zukunfts- und Stimmungsbild sehen zwei Drittel der Deutschen ängstlich in die Zukunft, sehen mit Sorge auf Gesellschaft heute und empfinden die gegenwärtige gesellschaftliche Stimmung als negativ. Wie gehen Menschen mehrheitlich damit um? 43 Prozent konzentrieren sich auf ihr privates Umfeld. Viele haben Sehnsucht nach heiler Welt im Kleinen à la ‚und die Welt bleibt draußen‘. Neun Prozent geben an, gesellschaftlich aktiv zu sein und einen Beitrag zu leisten, im Ehrenamt, in Umwelt- oder sozialen Projekten oder durch politische Arbeit. NEUN Prozent?

Das allgemeine gesellschaftliche Energieniveau scheint eher niedrig. Manche spüren den Handlungs- und Veränderungsdruck deutlich, aber zu wenige sehen den eigenen Anteil (am Problem und seiner Lösung), fühlen sich als ganz kleines Rädchen im großen Weltgetriebe. Apokalyptische Zukunftsbilder mobilisieren keine Mehrheiten und spannender wäre es doch zu diskutieren, wie Zukunft aussehen soll und kann. Also liebe demokratisch Engagierte – lasst Euch bitte nicht vom allgemeinen Pessimismus und Rückzug anstecken! Jeder Beitrag zählt und positive Energie kann andere anstecken.

https://www.rheingold-marktforschung.de/zukunftsstudie-2021-wie-deutsche-in-die-zukunft-blicken/

Photo by Alexas_Fotos on Unsplash

Demokratie lebt davon, dass sie praktiziert wird…

Manche haben das Gefühl, die Demokratie sei in der Krise, glauben zumindest, früher wäre alles besser gewesen. Tatsächlich? Für wen? Sicher nicht für Frauen, Zugewanderte, LGBTQs u.a. Klar, übersichtlicher war es. Es gab weniger Konfliktlinien und folglich war das Parteiensystem weniger polarisiert. Antikommunismus und Westbindung fungierten bis zum Ende des Kalten Krieges als ideologische Leitplanken, hegten laut Parteienforscher Michael Koß alle strukturellen politischen Konflikte ein. Wer sich das nicht vorstellen kann, möge an den Beginn der Corona-Pandemie zurückdenken. Der Virus fungierte als gemeinsamer Feind und gemeinsamer Feind vereint. Alle anderen Konflikte traten – zumindest für kurze Zeit – in den Hintergrund.

Herausforderungen und Umbrüche, wie Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung und Migration verschwinden jedoch nicht. Auch wenn es sich mancher harmonischer wünscht, wir sind zurück im Normal.

Was heißt das nun für uns? Demokratien sind bewegliche Systeme und offene Gesellschaften haben Feinde, die alles andere als untätig sind. Ein bisschen Angst um die Demokratie kann man schon haben, sagt Michael Koß. Wer gesellschaftliche und politische Umbrüche erlebt hat weiß, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Zu denken, „die da oben“ sollten sich jetzt endlich mal um die wichtigen Themen (welche?) kümmern, zeugt eher von Untertanengeist. Demokratie lebt vom Engagement und Mitmachen. Das bedeutet, mindestens gut informiert wählen zu gehen, besser noch selbst aktiv zu sein. Wer sich, wo auch immer, politisch engagiert, bekommt ein besseres Verständnis davon, wie Demokratie funktioniert, was man von Institutionen und ihren Vertretern erwarten kann.

Interessanterweise genießen in Deutschland regulative Institutionen, wie Polizei und Gerichte seit je her mehr Vertrauen als repräsentative. Dabei wird Parteien traditionell wenig Vertrauen entgegengebracht und das, obwohl ihre Rolle in der deutschen Demokratie so zentral ist. Aber egal, wie man persönlich zu all dem steht, von allein wird nichts besser. Die Feinde der Demokratie kümmern sich ganz sicher um mehr als den nächsten Urlaub.

Photo by Jennifer Griffin on Unsplash

 

Die große Erschöpfung

Soziales und gesellschaftliches Leben läuft auf Sparflamme, zu viel Vereinzelung. Der Tank ist ziemlich leer, die Laune im Keller. Unfreiwilliges Corona-Biedermeier und gleichzeitig immer wieder der krampfhafte Versuch aus den Umständen das Beste, meist für sich selbst (der nächste Urlaub!), herauszuholen.

In der medialen Berichterstattung scheint es nur noch ein Thema zu geben, Kennziffern und technische Details zur pandemischen Lage, Maßnahmen, Meinungen und viel Lamento. Natürlich haben geschlossene Schulen, Einzelhandel, Restaurants und Bühnen herbe Folgen, aber der Horizont scheint schmal geworden. Manches ist aus dem Blick geraten. Fragen nach Impftermin und Reisemöglichkeiten im Sommer bewegen deutlich mehr, als gesellschaftliche Langzeitschäden oder die Auswirkungen von Corona auf Lieferketten oder Erwerbsmöglichkeiten für Menschen in Brasilien, Indien, Marokko oder Ländern des Globalen Südens. Der Fokus ist national geworden, die Debatte zumindest in Teilen ziemlich flach und seltsam provinziell.

Unterbelichtet geblieben sind auch die Folgen von Corona auf Demokratie und Menschenrechte. Laut Nichtregierungsorganisation Freedom House hat sich seit Beginn der Pandemie ihr Zustand in 80 Ländern verschlechtert. Besonders schlimm trifft es Menschen in noch nicht gefestigten, jungen Demokratien und in stark repressiven Staaten. Insbesondere Minderheiten und marginalisierte Bevölkerungsgruppen haben zu leiden, werden zu Sündenböcken gemacht und zusätzlich diskriminiert. So wurden z.B. in Bulgarien Viertel, in denen mehrheitlich Roma leben härteren Bewegungseinschränkungen unterworfen, als andere Wohnviertel. https://freedomhouse.org/article/new-report-democracy-under-lockdown-impact-covid-19-global-freedom

Wenig gesprochen wurde auch über Einschränkungen kollektiver Beteiligungsrechte, wie Wahlen. Basierend auf Erhebungen des International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) wurden in mindestens 78 Staaten seit Frühjahr 2020 Wahlen und Referenden verschoben. Katapult hat das Thema aufgegriffen und anschaulich darstellt. https://katapult-magazin.de/de/artikel/verschoben-wegen-pandemie

Die Pandemie ist eine ernste Bedrohung für alle und super nervig für jeden Einzelnen, aber die Lasten treffen uns hier und Menschen anderswo sehr unterschiedlich. Wer ist besondere betroffen und wird derzeit kaum gehört? Wer wird nach der Pandemie besonders mit den Folgen zu kämpfen haben? Wo sind Langzeitschäden zu erwarten, wo gesellschaftliche Strukturen kaputt und reparaturbedürftig? Zivilgesellschaftliche Organisationen sind schon lang dran, laufen trotz widriger Umstände tapfer weiter, kümmern sich um die sozialen Folgen, die Bekämpfung von Fake News oder Korruption im Zusammenhang von Corona. Wer braucht Unterstützung in Form von Geld oder helfender Hände und Köpfe? „Winterschlaf“ oder Corona-Biedermeier muss man sich leisten können, aber eigentlich können wir es nicht.

Photo by Jeremy Lishner on Unsplash

Unsichtbare Feinde

Demokratien können mit einem Putsch untergehen, mit einem Krieg, einer Revolution. Sie können aber auch allmählich sterben, ohne jedes Drama eingehen. Ein allmählicher Prozess, der irgendwann anfing. Wie das aussehen könnte, zeigt Juli Zeh in „Leere Herzen“. Die BBB, „Besorgte-Bürger-Bewegung“, ist an Macht. Ein „Effizienzpaket“ nach dem anderen wird verabschiedet und auf die Art sukzessive die Demokratie abgebaut. Die meisten Menschen scheint das nicht zu interessieren. Das Leben geht weiter. Die Veränderungen haben erstmal keinen großen Einfluss auf Alltag und Lebensqualität der meisten. Es herrscht allgemeine Gleichgültigkeit. Politik, Religion, Gemeinschaftsgefühl und der Glaube an eine bessere Welt sind verlorengegangen. Überzeugungen? So gestrig wie Zeitung lesen. Die Gesellschaft im Roman ist sehr grob skizziert, aber die Bezüge zur Gegenwart sind deutlich.

Was gefährdet Demokratie?

Der demokratische Rückschritt beginnt an der Wahlurne denken einige mit Blick auf die Wahlerfolge von Rechtspopulisten und –Extremisten. Tatsächlich beginnt er aber schon viel früher, nämlich dort, wo Leute sich nicht als Teil einer größeren politischen Gemeinschaft fühlen, als Bürger, deren Stimme zählt und die über Möglichkeiten der Einflussnahme verfügen. Die „Partei der Nichtwähler“ erreichte bei der Bundestagswahl 2017 23,8%. Bei Kommunalwahlen in Köln wählt fast die Hälfte nicht und dass, obwohl Wahlergebnisse Einfluss auf Themen haben, die das Leben der meisten ziemlich direkt betreffen. In einer demokratischen Gesellschaft sind Wahlen die wichtigste Form der Partizipation. Hier manifestiert sich die politische Gleichheit der Bürger: „One men, one vote“. Politik reagiert auf zähl- und hörbare Stimmen. Wenn diejenigen, die ihren „Bürgerjob“ an den Nagel gehängt haben, immer mehr werden, steht Demokratie auf sehr wackeligen Beinen. Eine Mehrheit von Konsumenten könnte sie nicht mehr tragen.

Demokratie ist eine Aufgabe, für alle. Dazu gehört sich zu informieren, sich zumindest zu ein paar Themen eine Meinung zu bilden. Andernfalls kann man schlecht eigene Präferenzen mit den Angeboten der Parteien abgleichen. Demokratie erfordert Verhandlungen, Kompromisse, Zugeständnisse. Wer ein besseres Verständnis für politische Kommunikation und demokratische Prozesse hat, hat auch realistischere Erwartungen. Politiker-Bashing ist jedenfalls leichter, als sich den Politikbetrieb selbst mal genauer anzuschauen oder z. B. mitzuhelfen Themen auf die politische Agenda zu bringen.

Populäre Extremisten und Gegner der Demokratie gibt es immer. Die Frage ist, wie die Mehrheiten mit antidemokratischen Minderheiten umgehen. Hier liegt der Hebel. Gleichzeitig sitzt hier auch die Gefahr, wenn sich politische Apathie und Angst breit machen, die Vereinzelung zunimmt und mit ihr die größeren Ideen und gemeinsame Ziele verloren gehen.

 

Steven Levitsky / Daniel Ziblatt (2018): Wie Demokratien sterben
Juli Zeh (2017): Leere Herzen

Angst frisst Demokratie… ?

Angst ist ein Urgefühl. Sie signalisiert mögliche Gefahr, ist die narzisstischste aller Emotionen. Es geht um die eigene Sicherheit, das Überleben. Wer Angst hat, verschwindet in seinem Silo, verliert den Überblick. Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagt der Volksmund. Sie kann einen validen Kern haben oder auch eine Reaktion auf eine wahrgenommene Gefahr sein. Angst vor sozialem Abstieg, Zuwanderung, Verlust an kultureller Identität, terroristischen Anschlägen, neuen Technologien, Covid 19, der Klimakatastrophe… Die Liste kollektiver Ängste ließe sich fortsetzen. Oft geht Angst mit dem Gefühl einher nichts tun zu können, Gefahren oder Veränderungen ausgeliefert zu sein.

Meist sitzen Ängste in den Tiefenschichten des Bauches, kaum beachtet und nicht wirklich von Bedeutung. Die Angst kann jedoch schnell nach oben gespült, durch politische Rhetorik mobilisiert werden. Gut, wenn das in eine konstruktive Auseinandersetzung mündet. Oft schlägt Angst jedoch in Wut und Aggression um, braucht ein Ventil, ein Feindbild oder Sündenbock. Auch so kann ein ehemals diffuses Gefühl Richtung bekommen. Das ist der Moment für populistische Angebote oder autoritäre Verführung. Ein „starker Führer“, der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss, ist in Teilen der Gesellschaft durchaus attraktiv.

Wenn sich Angst und Unsicherheit breit machen, gewinnen autoritäre Antworten an Zustimmung. In abgeschwächter Form zeigt sich kollektive Verunsicherung auch in dem Ruf nach einem starken Staat. Die Politik ist gefragt, soll sich kümmern. Forderungen nach Verboten, Regeln, Gesetzen sind an der Tagesordnung. Aus den Untiefen der Gesellschaft tauchte im Corona-Jahr 2020 das längst vergessene Bild vom „Vater Staat“ wieder auf. Bürger als Kinder in einem wilheministischen Familienbild…?! Die Freiheit hat(te) wenig (hörbare) Fürsprecher (dafür einige falsche Freunde).

Angst kann die Sehnsucht nach der Abkürzung schüren und damit Löcher in das Fundament von Demokratien fressen. Eine Gesellschaft in Angst sitzt mutlos auf der Rückbank. Gründe für Angst gibt es immer, aber eigene Handlungsoptionen auch. Persönliches Rezept? Einfach machen, sich im Tun als wirksam erleben, sich zusammen mit Gleichgesinnten für Themen einsetzen, auch kleine Erfolge feiern, die Debatte mit potentiell Andersdenkenden nicht scheuen… 🙂

Photo by Etienne Girardet on Unsplash

Drei Jahrzehnte…

ist es her, dass aus den zwei deutschen Staaten einer wurde. 3. Oktober 2020 in Köln. Der Himmel ist grau, Nieselregen, Ruhe. Es könnte Allerheiligen sein. Der Tag der Deutschen Einheit scheint hier nicht stattzufinden. Während die Straßen in Köln ruhig und leer sind, finden zur gleichen Zeit in Berlin 70 Demonstrationen statt.

Voll sind nicht nur Straßen und Plätze in Berlin, voll sind auch die Medien. Interviews mit Zeitzeugen, ökonomische Kennziffern, Portraits ostdeutscher Unternehmerpersönlichkeiten. Es gibt kritische Geschichten, wie „Vor 30 Jahren: Mit Randale in die Einheit“ (Deutsche Welle, Bonn), aber auch ausschließlich positive, wie „30 Jahre Deutsche Einheit: ein Erfolg! Die Lage in Ostdeutschland ist viel besser, als viele vermuten. Man muss nur genau hinsehen“ (Friedrich Naumann Stiftung). Studien, wie „30 Jahre danach: Ost und West uneins über Deutsche Einheit“ von der Bertelsmann-Stiftung, analysieren auf Basis repräsentativer Befragungen, wie Menschen auf Ereignisse schauen. In überregionalen Medien gibt es Sonderbeilagen. Man will es auf jeden Fall gut machen, entweder kritisch, weil nur kritisch gut ist oder positiv-wertschätzend, weil Berichterstattung allzu oft pauschalierend und im Ton herabsetzend war.

In Köln sitzend, wirken die sonntägliche Ruhe, der Kontrast zu Berlin und Medienwelt seltsam. Gleichzeitige Ungleichzeitigkeit auch, weil der Tag für einen selbst wichtig ist. Im Zweifel skeptische Blicke. Geteilte Großfamilie, deutsch-deutsche Kleinfamilie. Das Verständnis hält sich in Grenzen. Man bleibt gern bei dem, was man denkt. Als „Fernsehereignis“ hat der Tag für viele die Qualität eines geschichtlichen Datums. Eine Zäsur, auch „Wende“ im Leben für die einen, ein Datum für andere. Wieder andere erinnern sich mit grenzenlosem Unbehagen an offenen Nationalismus und Gewalt gegenüber Zugewanderten in den 1990er Jahren. Perspektiven sind sehr verschieden und Asymmetrien offensichtlich. Darüber wäre es wichtig zu reden. Auch über Fragen wie, was es bedeutet deutsch zu sein, was Identität ausmacht. „Nationales“ war entweder geschickt umdribbelt, unterdrückt oder unbesprechbar. Der Einheitstag als Zumutung, vom Konzept des Nationalfeiertages erst gar nicht zu reden. Wenn eine Fußball-WM stattfindet, sieht die Sache übrigens anders aus, Fähnchen wohin das Auge schaut und zwar im ganzen Land. Kaum jemand scheint dabei Bauchgrummeln zu haben. Geht ja nur um Fußball! Tatsächlich? Sind nicht doch ein paar Fragen offen? Sehnsucht und Suche nach positiven kollektiven Bezugspunkten? Die Friedliche Revolution ist das beste Stück Geschichte, dass wir haben. Sie hat viel positive Energie erzeugt und Menschen auf der ganzen Welt Mut gegeben. Der 3. Oktober könnte Köpfe und Gespräche anstupsen. Das braucht aber keine runden Jahrestage. Wir können auch nächstes Jahr anfangen.

Photo by Sven Przepiorka on Unsplash

 

 

Bowling Alone

…ist der Titel einer Studie des Harvard-Professors Robert D. Putnam, ein Klassiker in den Sozialwissenschaften. Er hatte beobachtet, dass Menschen zwar nach wie vor gern bowlen, aber immer weniger in Vereinen. Sinnbild der Entwicklung sind die Fitness Studios, die in den 90er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber es geht auch mit noch weniger sozialer Interaktion. Yoga via Zoom funktioniert prima. Viele machen das Gleiche, aber jeder für sich.

„Was wir tun, wenn wir tätig sind“, interessierte Hannah Arendt hat schon in den Sechzigerjahren. Ihre Beobachtungen und Analysen klingen erstaunlich aktuell. Arbeit und Konsum, das sind die beiden Pole zwischen denen sich Leben abspielt. Mehr Freizeit heißt mehrheitlich schlicht mehr Konsum. Auch mehr Lebensglück? Menschen werden „weltlos“, sagt Hannah Arendt. Das klingt nach Lost in Space und meint es im Grunde auch. Es mangelt an Perspektive, denn es gibt nur eine und zwar die eigene. Auf sich selbst zurückgeworfen, ist man ist mit sich beschäftigt und interessiert sich kaum für Welt außerhalb des eigenen Kosmos. Gefühlt geht einen nichts wirklich an. Theoretisch könnte man viel, aber will nichts. Keine Phantasie für die Zukunft. Frei, aber eben auch disconnected. Immer beschäftigt, aber passieren tut nicht viel. Stillstand führt zu einem penetranten Gefühl der Leere.

Übertrieben? Nun, Welt ist nicht schwarz-weiß. Das Gefühl aber, dass dem Leben Sinn und Richtung fehlt, kennen einige. Sehnsucht nach guten, tragfähigen Verbindungen haben viele. Jobs geben Struktur, füllen Tage, bestimmen sozialen Kontext. Zu Beginn der Corona-Krise war plötzlich viel weg, für manche fast alles. Gemeinschaften mit solider Basis und von guter Substanz fanden schnell auch digital zusammen. Sie bleiben auch unter widrigen Umständen vital. Geteilt-gelebte Leidenschaften, Interessen und gemeinsames Tun schaffen Tiefe, ein Nebeneinander-her-konsumieren nicht. Konsumenten halten auch keine Demokratie am Leben. Es braucht Bürger, Menschen, die sich für etwas entscheiden, die machen, sich verantwortlich fühlen. Keine Organisation oder Gruppe passt perfekt, aber ohne geht es nicht. Nachbarschaftsinitiativen, Musikbands, demokratische NGOs und Parteien, Theatergruppen – sie bilden das Grundgewebe unserer Gesellschaft. Im Übrigen sind die Zumutungen, die wir in dem miteinander Tun erleben elementar und Teil der Übung 😉

Photo by the Cameraslinger on Unsplash

Ohne Frauen ist kein Staat zu machen* – und auch keine Revolution

Ersteres braucht man heute kaum mehr zu betonen. Letzteres gerät gern aus dem Blick und in Vergessenheit. Autonome Frauengruppen gab es, trotz fehlender Grundrechte und Repressionen, auch in der DDR. Grundsätzlich ging jeder, der sich engagierte ein persönliches Risiko ein, aber für Frauen, die Kinder hatten, war es besonders hoch. Viele dieser Frauengruppen waren im Kontext der Friedensbewegung in den 80er Jahren entstanden und sie spielten eine wichtige Rolle in der Friedlichen Revolution. Die Frauen protestierten nicht nur gegen die Diktatur, sondern kritisierten auch die Geschlechterverhältnisse in der DDR. Sie wollten die Demokratisierung des Landes vorantreiben und mit tatsächlicher Gleichberechtigung verbinden. Die Frauen fürchteten zu Recht nach Öffnung der Mauer, dass sie ihre wenigen Errungenschaften, wie die umfassende Kinderbetreuung oder das liberale Abreibungsrecht, wieder verlieren würden. „Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd“ war einer der Slogans damals. Um an den Runden Tischen und den ersten freien Wahlen im März 1990 teilnehmen zu können, schlossen sich zahlreiche, ganz unterschiedliche Initiativen und Gruppen zum Unabhängigen Frauenverband zusammen.

Die Ereignisse überschlugen sich. Die Einheit kam schneller als gedacht. Der Zusammenbruch der maroden Wirtschaft kostete enorm vielen Menschen den Arbeitsplatz. Oft waren es die Frauen, die ihre Familien finanziell über Wasser hielten. Die allermeisten Frauen waren in der DDR voll erwerbstätig gewesen, wollten und mussten es auch bleiben. Sie kämpften um die Anerkennung ihrer Abschlüsse und fingen nicht selten in der Mitte ihres Lebens beruflich nochmal ganz neu an. Frauen hatten schon immer viel zu schultern gehabt, waren flexibel, pragmatisch und sturmerprobt. In den Umbruchsjahren sorgten sie für Stabilität. Die in dieser Zeit heranwachsenden Töchter sahen ihre Chancen, lernten fleißig, studierten schnell und gingen schließlich dahin, wo sie die besten Möglichkeiten sahen. Endlich war die Welt war groß und so vieles schien möglich. „Hilfe, die Frauen fliehen“ titelte 2002 dann Der Spiegel. Was das mit der Demografie mancher Orte gemacht hat und heute für Sozialstruktur sowie politisches Klima bedeutet, ist spätestens seit den letzten Landtagswahlen von allgemeinem Interesse.

Ohne Frauen ist eben kein Staat zu machen und für Regionen sieht es auch trübe aus.

Urheber: Hartmut Kelm
19. November 1989, Frankfurt (Oder)
Lizenztyp CC BY-NC-ND 3.0 DE

*aus dem Gründungsmanifest Unabhängiger Frauenverband, Dez 1989

Robert-Havemann-Gesellschaft: Wir müssen schreien, sonst hört man uns nicht! Frauenwiderstand in der DDR der 1980er Jahre https://www.havemann-gesellschaft.de/ausstellungen/frauenwiderstand-in-der-ddr-der-1980er-jahre/

Digitale Deutsche Frauenarchiv (DDF), interaktives Fachportal zur Geschichte der Frauenbewegungen in Deutschland https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/start

Katja Salomo: Abwanderung, Alterung, Frauenschwund. Die verkannte Gefahr für eine offene Gesellschaft: https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/abwanderung-und-alterung-gefahr-fuer-die-demokratie

 

„Warum blieben alle hinter ihren Gardinen stehen, anstatt runterzurennen und zu helfen?“*

Der Satz hakt sich fest im Kopf. Wäre das heute anders oder sind im Grunde nur die Gardinen aus den Fenstern verschwunden? Theoretisch haben wir aus der Geschichte gelernt. Theoretisch.

Wenn etwas passiert, passiert entweder gar nichts oder es hagelt moralische Appelle. Manchmal gibt es Solidaritätsbekundungen. Sie sind wichtig und haben ihre Funktion, aber kosten den einzelnen fast nichts. Die unangenehme Frage bleibt: Wie hätte ich reagiert? Weggeguckt, rausgehalten? Sich am Rande zu halten, ist ein starker Impuls. Geht mich nichts an. Ausrichten kann ich nichts. Tatsächlich nichts?

Über eigene Werte redet es sich viel leichter, als sie handelnd zu leben. Verantwortung auch für andere zu übernehmen, ist schwieriger als sie, an wen auch immer, zurück zu delegieren. Wer sich heraushält, geht kein Risiko ein. Überzeugungen hin oder her.

Zivilcourage bedeutet einzuschreiten, wenn zentrale Werte und Normen offen verletzt werden, auch wenn uns Nachteile drohen. Bürgermut eben. Das klingt gut. Man müsse mal „ein deutliches Zeichen setzen“ und etwas tun, sagen viele. Aber wenn es darauf ankommt, sehen sie das naheliegende nicht. Über gesellschaftliche Missstände wird dafür weiter viel geredet. Analysen von der Seitenlinie. Oft verharren Diskussionen im man. Da fehlt zum Bürgermut nicht nur der Mut, sondern auch der Bürger.

Wenn mehr Leute ich, statt man sagen, ist das schon mal ein Anfang. Und wenn mehr Leute aufmerksamer ihr Umfeld scannen, hinhören und hinsehen, ist das der nächste Schritt. Wer also zukünftig nicht mehr mit lacht, wenn der Chef sexistische Witze reißt, hat immerhin das Thema verstanden und den Anfang geschafft. Nur Mut – Zivilcourage kann man lernen und einüben.

*Rahel Renate Mann, Der Spiegel Geschichte, Jüdisches Leben in Deutschland, 4/2019

Photo by Oliver Cole on Unsplash

Wissen wir noch, wo Norden ist…?

Es wird viel geredet über die Krise der Demokratie. Gleichzeitig halten die meisten Menschen bei uns sie für die beste Staatsform. Ein selbstbestimmtes Leben mit allen Grundrechten ist natürlich selbstverständlich. Selbstverständlich? Nach zwei Diktaturen in Deutschland? Selbstverständlich, wenn an vielen Orten der Welt derzeit um jedes Stückchen Freiheit hart gekämpft wird? Schließlich gibt es auch bei uns beunruhigende Entwicklungen. Selbstbewusste und engagierte Demokraten scheinen in der Minderheit. Menschen wollen „Führung“ hört man nicht selten. Das Gefühl, dass man selbst nichts ausrichten kann, ist weit verbreitet. Außerdem sind die Undemokratischen immer andere.

Wissen wir noch, wo Norden ist?

Kleines Gedankenexperiment. Denken wir kurz an Indien und China. Sehen wir spontan den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Länder? Schauen wir auf Israel. Sehen wir, was das Land von anderen Staaten im Nahen Osten ganz wesentlich unterscheidet? Interessant ist auch der Blick zurück auf die DDR. War das Land damals einfach das „andere“ Deutschland, dessen Regime mehr oder weniger von allein zusammenbrach? Was wissen wir schließlich von Politik und Gesellschaft der Länder, in denen wir so gern Urlaub machen? Interessiert es uns oder herrscht nicht oftmals blinde Teilnahmslosigkeit. Die kann man notfalls gut als „Toleranz“ tarnen, denn nichts ist sowieso schlimmer als in den Verdacht westlicher Arroganz zu geraten. Dabei sind wir es gerade dann, wenn wir glauben andere wollen nicht auch in Freiheit leben, schlechte Regierungen abwählen, ihre Meinung öffentlich äußern. Im Raushalten sind wir gut – hier wie da jahrzehntelang geübt. Da kann einem mit der Zeit schon der Kompass abhandenkommen. Und ist nicht auch bei uns einiges im Argen? Etablierte Parteien sind ordentlich ins straucheln geraten, Ressourcen sehr ungleich verteilt und damit auch die Partizipationsmöglichkeiten. Große Bauprojekte werden anderswo in Rekordgeschwindigkeit realisiert, was bei uns nie zu gelingen scheint. Das nagt am Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit. Selbstzweifel und Orientierungslosigkeit machen sich breit.

Wissen wir noch, wo Norden ist?

Wäre es nicht auch mal schön, wenn jemand hin und wieder „durchregieren“ und uns die größten Probleme vom Hals schaffen würde? Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft? Wunderbar! Aber da hilft nur Ärmel hochkrempeln und im eigenen Umfeld loslegen. Gesellschaft ist so gut oder schlecht, wie wir sie uns gestalten. Demokratie bedeutet Arbeit und braucht Geduld. Sie lebt vom Mitmachen. Das erfordert Zeit, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinander zu setzen. Die Beweglichkeit demokratischer Systeme müssen wir genauso aushalten, wie die ständige Konfrontation mit äußerst unterschiedlichen Weltsichten und extremen Meinungen. Anstrengend! Aber den wohlmeinenden Diktator gibt es nicht und Autokraten gehen nie freiwillig.

Eine klare Haltung bedeutet nicht, anderen das eigene Modell aufdrücken zu wollen, ganze Nationen zu dämonisieren oder mental wieder in Denkschablonen des Kalten Krieges zu verfallen. Klare Haltung heißt zu wissen, wo Norden ist. Das entsprechende Handeln folgt dann (fast) von allein…

Photo by Robert Penaloza on Unsplash