es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“*
Das Vergangene ist nicht tot. Es steckt in uns drin, lebt mit und über uns weiter. Geschichtliche Ereignisse hinterlassen ihre Spuren in Menschen, werden an nachfolgende Generationen weitergeben. Manches wird erzählt, anderes nur angedeutet oder verschwiegen. Wertvorstellungen, Kategorien, Ideen und Handlungsmuster werden in großem Maße auch durch das nicht Besprochene und das nicht selbst Erlebte bestimmt. Das Vergangene sitzt in uns, ist Teil von uns, ob wir wollen oder nicht. Dabei fühlt sich Geschichte oft abgeschlossen und selbst Neuste Geschichte weit weg an.
Das Vergangene ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. Sich selbst von individueller und kollektiver Geschichte abzuschneiden, liegt aus verschiedenen Gründen nahe. Einiges ist sehr dunkel, bleibt unbegreiflich. Verdrängen und vergessen ist auf jeden Fall bequemer. Gegenwart hält uns auch so gut auf Trab. In der eigenen Biografie gibt es Störendes, Kompliziertes oder Schmerzhaftes. Da wollen wir lieber frei und unbelastet unserer eigenen Wege gehen. Nur, Luftwurzler sind wir nicht, selbst wenn wir uns streckenweise so fühlen.
Über vieles wissen wir ganz gut Bescheid, gut genug, sagen nicht wenige. Einspruch! Wir stellen uns dennoch fremd, denn in unserer Wahrnehmung hat das Vergangene oft nicht viel mit uns selbst zu tun. Nicht um das Wissen geht es, sondern um eine Auseinandersetzung die Geschichte mit uns und heute verbindet. Es geht darum, dass wir uns selbst in Beziehung setzen mit dem Vergangenen. Wie hätte ich entschieden, gehandelt, gelebt, gefühlt? Was von „damals“ steckt heute noch in mir, in Gesellschaft? Was bedeutet das für unsere Vorstellung von Zukunft? Andernfalls bleiben wir unbeteiligte Beobachter, in uns tut sich nichts. Lehren aus Geschichte kann nur jeder einzelne für sich ziehen. Unreflektiert sorgen wir selber für Kontinuitäten von denen wir meinen, sie hätten nichts mit uns zu tun. Nicht die Gesellschaft handelt, sondern jeder einzelne von uns. Wie in Gesellschaften mit Geschichte(n) umgegangen wird, sagt auch einiges über ihr Selbstverständnis und die Art des Miteinanders aus. Manches lag lang oder liegt noch immer im persönlichen oder kollektiven toten Winkel. Warum? Fragen sind eher unbequem, auch die nach dem eigenen Desinteresse.
Schneiden wir uns ab vom Vergangenen, so zahlen wir einen Preis. Wahre Freiheit kommt erst nach der Auseinandersetzung und zwar einer, bei der wir mit Kopf und Herz dabei sind. Die Beschäftigung mit dem Schmerzhaften muss nicht schwächen, im Gegenteil. Wer sich einlässt, sieht heute mehr und gewinnt an Klarheit mit Blick auf das eigene Handeln. Das Vergangene lebt. Nichts verschwindet. Nehmen wir an, was ist und machen wir etwas daraus.
*Christa Wolf, Kindheitsmuster