Identität ist ein schillerndes Wort und hat schon seit einer Weile Konjunktur. Individuelle Selbstentfaltung und -verwirklichung sowie die eigenen Interessen sind uns allen ziemlich wichtig. Gleichzeitig ist das Denken in Gruppen tief ins uns eingesickert. Wer sich eindeutigen gesellschaftlichen Gruppenkategorien verweigert, wird misstrauisch beäugt und zumeist behände von anderen zugeordnet sowie mit den „passenden“ Zuschreibungen versehen – „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“, fasst Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, das ganze gut zusammen. Die Kästchenlogik wirkt wie ein gesellschaftlicher Spaltpilz.
Ich, ich, ich, aber wer bin ich?
Der Markt der Möglichkeiten ist groß und Angebote gibt es zahlreiche. Was uns ausmacht und wie wir leben, ist offensichtlich immer nur eine Option unter vielen anderen. Frühere Autoritäten dienen kaum mehr der Orientierung. Die Zeiten, in denen Gesellschaft relativ homogen und individuelle Verortung fix war, sind vorbei. Manche haben nostalgische Erinnerungen, aber Homogenität hatte für alle einen Preis und für manche einen sehr hohen. Homogenität ist eben nur mit Repression, Anpassung und Gewalt durchzusetzen. Nach der Zeit der Diktatur(en) kam endlich die Freiheit und die Freiheit hatte die Vielfalt im Gepäck. Individualisierung nahm zu. Migration steuerte ihren Teil zur Diversität bei. Gesellschaft ist aber nicht nur vielfältiger geworden, sondern hat sich laut Isolde Charim, Philosophin, pluralisiert. Das bedeutet, dass es nicht mehr nur ein kulturelles Koordinatensystem gibt, sondern offensichtlich mehrere, die nebeneinander stehen. Verschiedenheiten gab es in Gesellschaft auch früher schon, aber im Unterschied zu heute waren sie zweitrangig. Zugewandert oder Alteingesessen, Angehöriger von Minderheit oder Mehrheit, Mann oder Frau – wo jeder Einzelne in Gesellschaft verortet war und wie er dazugehörte, war unmittelbar gesetzt, unhinterfragt und selbstverständlich. Heute hingegen gibt es keine Institutionen und Strukturen mehr, die wie in der Vergangenheit über Macht und Einfluss verfügten, Menschen ihren Platz in der Gesellschaft vorzuschreiben. Eine gesellschaftliche Sitzordnung gibt es zwar nach wie vor, aber sie wird hinterfragt, bekämpft, verteidigt. Das bedeutet mehr Stress und Konflikte.
Ich, ich, ich, aber wer bin ich? „Da ist immer ein Zweifeln, eine rastlose Suche nach sich selbst“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Autor von „Köln auf der Couch“ und „Wie tickt Deutschland?“. Wir schauen weiter und müssen uns (und anderen) immer wieder versichern, wer wir sind und wo unser Platz ist. Das strengt an. Nicht wenige ziehen sich ganz oder zeitweise zurück in ihren Kokon, ihre einigermaßen homogenen Blase. Aber wer sich dauerhaft nur um sich selbst dreht, dessen Leben fühlt sich lau an. Sinnvolles Tun ist ohne einem „Aus-sich-hinausgreifen“ nicht möglich. Freiheit und Vielfalt scheinen für manche schwer aushaltbar zu sein. Ziemlich „Lost in Space“ suchen sie möglichst eindeutige Festlegung für sich selbst und ein Geländer für den eigenen Lebensweg. Andere genießen und nutzen ihre Freiheit. Wer sich aufrafft – der Platz im Kokon wird schon nicht gleich wieder besetzt sein – und in Gesellschaft unterwegs ist, stellt schnell fest, dass jenseits der üblichen Kästchen Menschen mit gemeinsamen Interessen sitzen. Der Horizont weitet sich und das fühlt sich gut an. Wer dann noch seinem Leben mehr Sinn geben möchte – Themen an denen wir Verschiedene gemeinsam arbeiten können, gibt es genug 😉 und der Spaltpilz verliert an Boden…
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 2018
Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, 2018