Vom Leben in der pluralen Gesellschaft

Kaum jemand wird bestreiten, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Wie wir Veränderungen wahrnehmen und damit umgehen ist individuell verschieden. Zum Einstieg drei ganz unterschiedliche Sichtweisen.

Interessant ist die Perspektive von Thomas Bauer, Arabist und Islamwissenschaftler. Mit Blick auf unsere Gesellschaft spricht er eher von Scheinvielfalt. Seiner Ansicht nach, war Europa über viele Jahrhunderte eine der monokulturellsten Regionen überhaupt. Geografische Lage, weniger Zuwanderung als anderswo sowie umfassende Christianisierung sind seiner Meinung nach wesentliche Gründe. Gesellschaftliche Pluralität hingegen gab es entlang der großen Handelsrouten der Vormoderne, d.h. in Städten, wie Marrakesch, Kairo oder Mumbai. Hier war Vielfalt an Sprachen, Religionen und Lebensweisen für Menschen normal und selbstverständlich. Ob uns das heute weiterhilft, darüber kann man debattieren, aber der Blick wird weiter und Dinge rücken vielleicht in Perspektive.

Ganz anders schaut Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Integrationsforschung, auf unsere Gesellschaft. Sie sagt, dass Deutschland gerade dabei wäre sich zu normalisieren, indem es kulturell, religiös, ethnisch und national wieder vielfältiger wird, denn es war – bis auf eine kurze traumatische Zeit – schon immer von Vielfalt geprägt. Vielfalt sei ein Markenzeichen unseres Landes. Spannend, dass man die Geschichte auch so erzählen kann.

Der persönliche Referenzrahmen ist oft ein anderer und viele haben homogenere Zeiten erlebt. Hinzukommt, dass Vorstellungen von Nation und Nationalstaat aus der Zeit europäischer Staatenbildung nachhaltig Spuren hinterlassen haben. Es gibt jedoch auch – „Einheit in Vielfalt“ (Indien), „Mosaikgesellschaft“ (Israel), „Regenbogennation“ (Südafrika). Dahinter liegen offensichtlich andere gesellschaftspolitische Erzählungen und letztlich sind sie es, die Realität schaffen (siehe Benedict Anderson: „Die Erfindung der Nation“ – Nation als „imagined community“).

Wem das jetzt zu weit führt, der bleibe gedanklich daheim und lese „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim. Ausgangspunkt ihrer Analyse entspricht der Alltagserfahrung vieler, d.h. früher war‘s meist deutlich übersichtlicher. Dennoch – ob es uns gefällt oder nicht – die Zeiten gesellschaftlicher Homogenität sind vorbei. Hinterherheulen bringt nichts und zurückdrehen ist auch keine Option (wer anderer Meinung ist, kann sich gern die Konsequenzen genauer überlegen). Außerdem waren Veränderungen tiefgreifend und so umfassend, dass sie auch um uns selbst keinen Bogen gemacht haben. Unweigerlich müssen wir uns also mit der Tatsache anfreunden und erfahren, dass unsere eigene Weltanschauung beispielsweise nur eine Option unter vielen ist. Das Leben, das wir heute führen, könnte auch ganz anders aussehen und was uns ausmacht, bedarf einer Reihe von Entscheidungen. Das ist Arbeit und die Unsicherheit bleibt. Hektisch versuchen nun manche „ihr Modell“ zu verteidigen. Das ändert nichts und beweist vielmehr – die Selbstverständlichkeiten sind dahin und die Optionen nicht zu übersehen. Auch der Rückzug in die eigene, kleine Blase hilft nicht wirklich. Wenn nun also jede Religion oder Weltanschauung, Lebensweise oder Tradition neben anderen Religionen, Lebensweisen oder Traditionen steht, so ist die entscheidende Frage, wie wir unsere Überzeugungen leben – pluralistisch, d.h. im Wissen darum, dass dies nur eine Möglichkeit unter vielen ist oder nicht-pluralistisch, indem wir alles andere negieren, unsere Entscheidung zur Norm und Wahrheit erklären. Die eigentliche Kernfrage unserer Zeit ist nach Ansicht von Isolde Charim also nicht mehr „Wer bist du?“, sondern „Wie stehst du zu dem, was du bist?“.

Nun kann und soll also jeder nach seiner Fasson glücklich werden, aber was verbindet uns dann noch oder teilen wir nur zufällig einen Raum? Erstens verbindet uns Verschiedene oft weit mehr als wir glauben, aber Gruppendenken und Stereotypen verstellen uns vielfach den Blick. Zweitens sind wir frei uns zu engagieren und Tun verbindet. Das ist großartig! Weltweit ist Zivilgesellschaft unter Druck und freie Meinungsäußerung in den meisten Ländern eingeschränkt oder ganz verboten. Setzen wir uns für eine offene und demokratische Gesellschaft sowie ein gutes Gemeinwesen ein. Suchen wir Verbündete und bilden wir Allianzen über gesellschaftliche „Kästchen“ hinweg. Das baut nicht nur Vorbehalte ab, sondern schafft gesellschaftlichen Zusammenhalt, weitreichende Netzwerke und tragfähige Bindungen.

Wer ein bisschen „Starthilfe“ braucht, lese Jürgen Wiebickes „Zehn Regeln für Demokratieretter“ – knapp und kompakt, gut geschrieben und motivierend. Los geht es beispielsweise mit Regel Nummer eins: „Liebe deine Stadt“ und zwar – Achtung wichtig – im konkreten Tun. Eine andere wichtige Regel ist, Kontakt zu den Menschen zu suchen, die ganz anders leben und anders denken als man selbst. Man kann es nicht oft genug sagen – raus aus der eigenen Blase ist immer eine gute Idee. Und warten wir schließlich nicht auf den großen Wurf, denn alles fängt im Kleinen an. Jürgen Wiebicke hat völlig recht: „Wer meint, nichts tun zu können, nimmt sich vom Spielfeld und überlässt es anderen“ – keine gute Option in Anbetracht derzeitiger Debatten und Probleme.

Im Übrigen bleibt das Leben lau, wenn es sich nur um das eigenen Wohlergehen à la mein nächster Urlaub, mein neuer [Weber-Grill]* etc. dreht 😉

*Platzhalter – bitte selber etwas einsetzen

Jürgen Wiebicke: Zehn Regeln für Demokratie-Retter. KiWi-Taschenbuch, 2017, ISBN: 978-3-462-05071-4
Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Zsolnay, 2018, ISBN 978-3-552-05888-0
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 2018, ISBN: 978-3-15-019492-8