Elemente und Urspünge totaler Herrschaft

Hannah Arendt

Ein wahrhaft dicker Brummer – gute 1000 Seiten… Eine wahrhaft umfassende  Analyse über die Essenz und die Ursprünge totaler Herrschaft. Sehr aktuell, denn viele der heutigen Herausforderungen haben strukturelle Ähnlichkeiten mit denen des letzten Jahrhunderts. Daraus kann man lernen!

Warum ist das Buch so lesenswert? Es ist erstens topaktuell, denn auch heute ist Vieles in Bewegung, stabil Geglaubtes scheint zu wanken. Starke Anführer bieten sich und scheinbar starke Rezepte an, Meinungen werden als Fakten und Wahrheiten verkauft, Europa läuft Gefahr technologisch und damit auch wirtschaftlich den Anschluss zu verlieren, etc.

Zweitens bietet Hannah Arendt einen weiten und tiefgründigen Einblick in Entstehung und Struktur totalitärer Herrschaft. Sie arbeitet die Essenz des Totalitären heraus und zeigt auf wie lang der Vorlauf und wie vielfältig die Quellen waren, die zu einem Nazi-Deutschland und einem Stalin-Russland geführt haben. Dies umfasst beispielsweise den Blick auf und die Abwertung von Menschen im Zuge des Kolonialismus, die ökonomische Verelendung von Vielen durch die industrielle Revolution, aber auch die gefühlte und reale Überflüssigkeit von Menschen, die ihre Rolle bzw. ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben. Und drittens was mir besonders gefällt, sie ist mutig und vorbehaltlos in ihrer Analyse. Sie vergleicht beispielsweise das stalinistische System mit dem von Nazi-Deutschland und zeigt die starken strukturellen Gemeinsamkeiten. 

Was ist drin? Eine anschauliche Beschreibung einer totalitären Welt mit ihrem allgegenwärtigen Terror, ohne jegliche zumindest halbwegs verlässliche Eckpunkte für den Einzelnen und des absoluten ausgeliefert Seins des Individuums. Gänsehaut, unvorstellbar für einen heutigen „Friedenseuropäer“ – aber Realität hier in Deutschland, nur einen  knappen Augenblick vor heute.

Außerdem kristallisiert das Buch den Kern des Totalitären heraus, den Unterschied zur Diktatur, das hysterisch Bewegte, das alles Fressende und am Ende doch für nichts Stehende. Das komplette Fehlen von Empathie, Verbindung, Menschlichkeit. Und Drittens – und das ist das für heute so wertvoll- der Versuch einer Erklärung wie sich eine solche Welt entwickeln konnte. Dies umfasst beispielsweise gefühlte und reale Überflüssigkeit, Heimatlosigkeit, Verarmung, Sprache, Kolonialismus, die Auflösung von halt gebenden Strukturen und vieles mehr.

Was sollte man beachten? Zuallererst dass das Buch ein wahrhaft dickes Brett mit gut 1000 Seiten ist und eine ziemlich intensive Lektüre erfordert. Und auch dass Hannah Arendt natürlich nicht frei von eigenen Irrungen und blinden Flecken war – z.B. ihre potentiell rassistische Sicht auf die unter der Kolonialisierung leidenenden Menschen.

Was kann man für heute mitnehmen? Enorm viel, denn die Probleme von Sinnarmut, Vereinzelung, Verlust von stützenden Strukturen, Überforderung und Sehnsucht nach einfachen Antworten, von Ungleichheit in der Gesellschaft oder von gefühlten und realen Abstiegsängsten sind brandaktuell.  Was es braucht ist eine Politik und eine Gesellschaft, die nicht zu viel „Ausschuss“ im materiellen aber auch im geistigen und moralischen Sinne produziert.  Das wiederum geht nur, wenn genügend Bürger die Möglichkeit, den Glauben und die Fähigkeit haben, sich einzubringen und mitzugestalten. Das hat nicht nur aber viel mit Bildung zu tun.

Heute ist nicht das frühe 20. Jahrhundert, das Projekt Europa ist nicht so wackelig wie manche unken, die Zivilgesellschaft ist vielfältig, aber Dinge sind (wieder) in Bewegung und vieles was heute verwundert ist vom Prinzip her gar nicht neu. Daher lohnt sich der geschichtliche Blick…Fehler müssen ja nicht wiederholt werden.

 

Peter Veil